Charlotte Stieglitz (* 18. Juni 1806 in Hamburg; † 29. Dezember 1834 in Berlin) war eine deutsche Schriftstellerin.
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Heinrich Wilhelm August Stieglitz (* 22. Februar 1801 in Arolsen, Hessen; † 23. August 1849 in Venedig) war ein deutscher Lyriker.
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#54 Brief an L.
Datierung | 1919-??-?? |
Absendeort | München, Deutschland |
Verfasser | Toller, Ernst |
Beschreibung | Brief |
Provenienz | Original nicht ermittelt. |
Briefkopf | - |
Publikationsort | D1: Geschenk einer Gefangenen. (Anonym bleibende Erlebnisse). In: Berliner Tageblatt, Nr. 233 vom 19.5.1929. D2: Briefe aus dem Gefängnis (TW, Bd. 3, S. 282f.). |
Personen |
L., ?
Stieglitz, Charlotte Stieglitz, Heinrich Wilhelm L., ? Toller, Ernst |
Liebe Freundin,
erinnern Sie sich noch an Charlotte Stieglitz? An jene Frau, die sich getötet hat im Glauben, die grosse Erschütterung könnte ihren Mann aus dem Zustand der Lethargie und Sterilität aufrütteln und in ihm die verschütteten, schöpferischen Kräfte wecken? Es gibt im täglichen Leben unzählige kleine Opfer, die nicht mit romantischer Glorie umwoben sind, denen auch nicht der Tod folgt, die aber doch unendlich schön und in ihrer Anonymität unendlich mutig sind.
Vielleicht ist es wirklich nicht so schwer, für einen geliebten Menschen zu sterben, vielleicht ist es schwerer, die Kraft einer Bereitschaft zu haben, die das leben einsamer und enger macht.
Wir lagen 100 Männer in einer Kriegsgefangenenbaracke, seit vier Jahren von unseren Frauen getrennt. Seit vier Jahren. Jedes Gespräch, das zwei miteinander führten, kreiste am Ende stets um das Gleiche: um Frauen.
Uns gegenüber lag ein Gefängnis. Die hohen Mauern wehrten jedem Blick. Ausserhalb der Mauern stand ein kleiner Schuppen. Wie wir herausbekamen: eine Art Waschküche, die aber nicht benutzt wurde. An einem Tag, im vierten Jahr der Gefangenschaft, entdeckte einer, wie in dem Schuppen Fensterläden geöffnet wurden, sah zwei Frauen hantieren. Eine blieb in der Waschküche zurück, die andere ging fort und schloss hinter sich die Türe. Bald wussten wir alles. Die beiden Frauen waren eine Wärterin und eine Gefangene, die kurz vor ihrer Entlassung stand. Sie war wegen Kindesmord zu acht Jahren Zuchthaus verurteilt. Fünf Jahre hatte sie abgesessen. In einigen Wochen sollte sie begnadigt werden.
Es wäre zu kompliziert, Ihnen zu schildern, wie wir es fertig brachten, mit dem Mädchen Kassiber zu wechseln. Zuerst spielerische und harmlose, dann fiebrige, leidenschaftliche, wirre. Was sich in der Abgeschlossenheit, in Träumen, in Wünschen, in Phantasien gesammelt hatte, drängte hin zu dieser Frau. Eines Morgens gab sie uns ein Zeichen: Wir sollten zu einer bestimmten Stunde am Fenster stehen.
Unmöglich zu schildern, was sich begab. Die Frau hatte ihr Kleid geöffnet und stand nackt am Fenster.
Sie wurde überrascht und abgeführt. Wir sahen sie nie wieder. Aber wir bekamen heraus, dass ihre Begnadigung aufgehoben war.
Der Krieg ging zu Ende. Wir kamen in die Heimat zurück. Nie wieder hat mich eine Frau so tief gerührt wie jene kleine Gefangene, die, um Menschen für Sekunden zu beglücken, mit gestenloser Bewusstheit drei Jahre Zuchthaus auf sich nahm.
Oft wollte ich dieses Erlebnis in einer Novelle zeichnen, ich empfand Scheu. Sie, liebe Freundin, begreifen das. Sie sagten einmal, dass die feinsten privaten Erlebnisse einen Hauch haben, der sie nur durch winzige Nuancen von verlogenem Kitsch unterscheidet.