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Ernst Toller (*1. Dezember 1893 in Samotschin, Provinz Posen; gestorben am 22. Mai 1939 in New York City, New York) war ein deutscher Schriftsteller, Politiker und linkssozialistischer Revolutionär.

#53 Brief an B.

Datierung 1919-??-??
Absendeort München, Deutschland
Verfasser Toller, Ernst
Beschreibung

Brief

Provenienz Original nicht ermittelt.
Briefkopf -
Publikationsort Briefe aus dem Gefängnis (TW, Bd. 3, S. 281f.).
Personen B.
Spörer, Ludwig
B.
Toller, Ernst

An B.

Im Gefängnis fiel mir ein Gefangener auf, in dessen Stirn, zwischen den Augenbrauen, eine senkrechte tiefe rote Narbe sich kerbte. Es war Ludwig S., Bäckergeselle aus München. Andere erzählten mir, daß er nicht sprechen noch hören könne. Ich bat ihn, auf einem Zettel seine Geschichte mir aufzuschreiben.

S. berichtet: „Ich war Rotgardist. Am 2. Mai wurde ich gefangengenommen. Weißgardisten führten mich in das Matthäserbräu. Ich wurde zu einem Offizier geführt. Er nahm meine Personalien auf. Dann wurde ich einem Feldwebel übergeben, der führte mich in den Hof einer Schule, dort sagte er: ‚Wozu lange Umstände machen! Kerl, stell Dich an die Wand!‘ Ich stellte mich, ohne viel zu überlegen, an die Wand. Furcht hatte ich schon, aber alles ging so rasch, daß ich zu langem Besinnen nicht kam. Der Feldwebel zog seinen Revolver, zielte, schoß.

Ich lag auf dem Hof, mein Kopf fiel nach hinten, ich fühlte feucht. Er hing wohl in die Pfütze. Was war geschehen? Herrgott, ich bin doch erschossen. Aber wie –? Ich öffne die Augen, über mir Himmel.

Ich überdenke, was geschehen ist. Sehr geschwind denke ich. Der Feldwebel hat seinen Revolver gezogen, hat gezielt, hat geschossen. Das habe ich nicht geträumt. Aber tot bin ich nicht. Wahrscheinlich bin ich nur verwundet. Wo weiß ich nicht. Ich will mich erheben. Nein, nein das darf ich nicht tun. Der Feldwebel sitzt vielleicht oben in seinem Büro und sieht, daß ich noch lebe. Dann kommt er und macht mir vollends den Garaus. Ich bleibe ganz steif liegen.

Wieviel Zeit verging, weiß ich nicht. Ich höre Stimmen: ‚Du, da liegt ein Roter.‘ Ich fühle, wie man in meine Taschen greift, mich ausraubt. Der eine sagt: ‚Du, der lebt noch.‘ ‚Dann gib ihm den Fangschuß,‘ sagt der andere. Ich fühle was Kaltes auf meiner Stirn.

Ich erwache, liege in einem großen Saal auf einem Operationstisch. Ich sehe Männer in weißen Kitteln und Schwestern. Ich sehe ihre Lippen sich bewegen, aber ich höre nichts. Ich will sprechen. Es geht nicht. Plötzlich erinnere ich mich: Ich bin tot. Bin ich nicht tot? … Ich gebe Zeichen. Die Menschen um mich merken, daß ich nicht sprechen noch hören kann. Allmählich erfahre ich alles.

Der Schuß vom Feldwebel war an meinem Zigarettenetui abgeprallt. Vor Angst und Schreck war ich ohnmächtig geworden. Der Soldat, der mir den Fangschuß gab, hatte den Revolver an meiner Stirn angesetzt. Aber da mein Kopf nach unten hing, war die Kugel nicht in die Stirn gedrungen. Es war nur ein Streifschuß geworden. Man kann den Finger reinlegen, so tief ist die Narbe. Ich blieb auf dem Hof für tot liegen. Abends warfen die Soldaten den Toten auf den Wagen, auf dem schon einige Leichen lagen. Sie fuhren uns auf den Ostfriedhof. Als ich auf die Erde gelegt wurde, muß ich mich bewegt haben. Ein Pfarrer sah es und veranlaßte, daß ich in die chirurgische Klinik geschafft wurde.“

Kein Geschehnis kann deutlicher Ahnung vom Geist unserer Justiz geben. Im Mittelalter entschied über manchen Gefangenen das Gottesurteil. Überstand er es, ward ihm Freiheit geschenkt. Wir leben im zwanzigsten Jahrhundert.