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Ernst Toller (*1. Dezember 1893 in Samotschin, Provinz Posen; gestorben am 22. Mai 1939 in New York City, New York) war ein deutscher Schriftsteller, Politiker und linkssozialistischer Revolutionär.

#1649 Brief an Betty Frankenstein

Datierung 1939-02-22
Absendeort New York City, New York, USA
Verfasser Toller, Ernst
Beschreibung

Brief, 12 S., M

Provenienz DLA Marbach, Bestand A:Toller, Zugangsnr. 62.280/3
Briefkopf Hotel The Mayflower, New York City
Personen Frankenstein, Betty
Toller, Ida
Cohn, Hertha
Cohn, Erich
Mendelsohn, Luise
Schönblum, Anne
Toller, Heinrich
Toller, Ernst
Frankenstein, Betty

22. Febr. 39.

Liebste Betty –

wie seltsam – als ich Ihre Handschrift wieder sah, hatte ich das Empfinden, dass nicht Jahre vergangen sind, seit wir uns begegnet sind, sondern dass Sie gestern, oder vor ein paar Tagen bei mir sassen, und ich Ihnen erzählen durfte, was sonst unausgesprochen bleibt, die Erlebnisse und Erfahrungen, Gedanken und Erkenntnisse, die nur für uns selbst oder für die wenigen Freunde Bedeutung haben. (Die winzigen Trübungen und Freuden der Seele, die einen Strom und eine Kette bilden) Sie konnten zu mir sprechen, und ich konnte zu Ihnen sprechen, ohne dass wir vorgeben mussten „klar“ und „sicher“ zu sein, wir konnten uns eingestehen, dass wir, wo die andern das Unfassliche und Unfassbare mit Schlagwörtern zu erobern glaubten, verwirrt und traurig sind. –

Vielleicht meinen die Götter es gut mit uns und wir sehen uns noch einmal, bevor wir das Fleckchen Erde gefunden haben, das unsere wahre Emigration ist – (Mutter nannte das Haus, erinnern Sie sich noch? vier Bretter und zwei Brettchen).

Was ich tun kann für Hertha und Erich, soll und wird geschehen. 1000 £ besitze ich nicht, weiss auch niemand, der sie mir geben würde. Die Überweisung eines Betrages für das „fiktive Kapitalisten Zertifikat“ (what a word!) wird sofort geschehen. – Ich schreibe heute deshalb an Luise oder ich regle es von hier aus innerhalb von ein, zwei Wochen. Ob ich fähig sein werde, Hertha und Erich in P. zu unterstützen ist fraglich und ungewiss. Ich habe seit zwanzig Monaten nicht einen Bruchteil dessen verdient, was ich zum blossen Dasein brauche, ich lebte von Ersparnissen, und als ich dann eine Aufgabe sah, die von mir Einsatz und Kraft und Hingabe forderte, brauchte ich das meiste von dem auf, was ich mir vorgenommen hatte nicht anzurühren, weil es stets als ein „Notpfennig“ für Hertha gedacht war. Heute sieht es so aus, dass, wenn ich nicht ein Jahres-Stipendium von einer Stiftung in N. Y. erhalte, in ein paar Monaten zu den „Out and Down“ gehöre, wie man hier sagt. Es muss sich in ein paar Wochen entscheiden, ob ich das Stipendium erhalte, dann will ich, wahrscheinlich in Europa, versuchen zu arbeiten; ein Buch beenden (Reden und Aufsätze aus 15 Jahren) und, wenn es mir gegeben ist, ein neues Stück schreiben. Denn ich habe seit dem Beginn der Arbeit für Spanien keine private oder literarische Existenz geführt. Die letzten beiden Stücke sind hier nicht aufgeführt worden – ob ich je im amerikanischen oder englischen Theater eine Möglichkeit finde, ist dunkel, ich fange an daran zu zweifeln – aus Gründen, über die ich Ihnen ein ander Mal schreiben will. Im Moment bin ich so leer und erschöpft, wie selten vorher – kommt wieder eine der monatelangen Perioden der Schlaflosigkeit – wie es schon dreimal oder viermal während der Emigration mich traf – nein, nein, nicht daran denken.

– Bitte grüssen Sie Annchen, ich bin froh, dass sie gereift ist. Ich danke Ihnen, dass Sie sich ihrer annehmen. Was mit Heinrich geschehen soll, weiss ich nicht. Gewiss ich werde ihn aus Prag herausbringen, aber was dann? Als ich ihm riet nach Samotschin zu reisen, und dort vom Ertrag seines Hauses und Landes zu leben, (vor Jahren, als er es noch konnte) schrieb er hochmütig zurück, er gehe nicht in einen Ort, wo er sich „lebendig begraben“ vorkomme. In jedem Brief an mich (und auch an Freunde) droht er mit Selbstmord, es mag ungerecht sein, er erscheint mir nicht nur elend, und ich empfinde Zorn über seine Jämmerlichkeit. – Liebe Betty, ich umarme Sie. Ernst.