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Nettie Sutro-Katzenstein (* 1. November 1889 in München; † 21. September 1967 in Zürich) war eine Schweizer Historikerin und Flüchtlingshelferin.

Erika Buchmann (* 19. November 1902 in München; † 19. November 1971 in Ost-Berlin) war eine deutsche Politikerin.

Matthias Claudius (Pseudonym Asmus, * 15. August 1740 in Reinfeld (Holstein); † 21. Januar 1815 in Hamburg) war ein deutscher Dichter und Journalist, bekannt als Lyriker mit volksliedhafter, intensiv empfundener Verskunst.

Ernst Toller (*1. Dezember 1893 in Samotschin, Provinz Posen; gestorben am 22. Mai 1939 in New York City, New York) war ein deutscher Schriftsteller, Politiker und linkssozialistischer Revolutionär.

Nettie Sutro-Katzenstein (* 1. November 1889 in München; † 21. September 1967 in Zürich) war eine Schweizer Historikerin und Flüchtlingshelferin.

#82 Brief an Nettie Katzenstein

Datierung 1920-07-??
Absendeort Niederschönenfeld, Deutschland
Verfasser Toller, Ernst
Beschreibung

Brief

Provenienz Original nicht ermittelt.
Briefkopf -
Publikationsort Briefe aus dem Gefängnis (TW, Bd. 3, S. 291f.).
Personen Katzenstein, Nettie
Schollenbruch, Rudolf
Buchmann, Erika
Claudius, Matthias
Toller, Ernst
Katzenstein, Nettie
Werke Masse Mensch

Niederschönenfeld, Juli 1920

An Tessa.

Von beleibten Bürgern mit jener schmunzelnden Befriedigung betrachtet, die sie auch im Zoologischen Garten empfinden, wenn sie wilden Tieren in sicheren Käfigen sensationslüstern zublinzeln, von höhnischen Bemerkungen begleitet, verließ ich Neuburg und kehrte in mein buon retiro zurück. Ist mechanische Gewöhnung schuld, daß wir ein Gefängnis noch, in dem „unsere“ Arbeitszelle sich befindet, anschauen können wie eine Heimat? Ich weiß es nicht. Ich hatte das Gefühl, da ich wieder meine Zelle betrat, ich käme „nach Hause“.

Du magst recht haben: noch täten mir not Jahre stillen Lebens, Jahre einsamer Wanderungen.

Ich hatte keine Kindheit, die mir Freude gab, keine Lehrer, die meiner Unrast und schweifenden Unbändigkeit Ordnung wiesen, innere Ordnung, die geistiges Leben in großen, klaren Linien formt.

Wenn mich Erlebnisse gequält haben, treibt es mich, ein Drama zu schreiben, ein Werk zu bilden, wie im Fieber. (Und dann fühle ich mich leer und hilflos, entblößt und armselig.) Das ist eine Gnade. Doch ich bin nur Gefäß, in dem schöpferische Lebenskräfte wirken.

Vor dem Wenigen, das ich gelten lasse, fühle ich mich ganz bescheiden.

Und im Leben? In den Momenten, „da es darauf ankommt“, werde ich meinen Mann stehen.

Aber all das genügt mir nicht, ist so wenig.

Ich muß dazu kommen, mein Schaffen, mein Leben meistern zu können, klar zu denken, fähig zu sein, von einer geistigen Mitte die Zusammenhänge zu erkennen und in den Zeiten, „da es nicht darauf ankommt“, mich in strenger Selbstzucht zu bilden. Ich kann nur helfen, schaffen, mitarbeiten, wenn ich mein Leben erfülle.

In welche Städte, Geschehnisse, Landschaften ich noch getrieben werde – wer vermag es zu sagen.

Wenn ich jetzt einzelne Sätze lese, zweifle ich, ob sie wahr sind – oder immer wahr sind, – denn zu Zeiten ist der Trieb, nur zu sein, zu atmen, am stärksten in mir.

Ich habe heute das Inselbüchlein „Der Wandsbecker Bote“ von Matthias Claudius gelesen. Es machte mich friedlich, glücklich. Gibt es viele Gedichte, die eine so schlichte Schönheit haben, wie das Mondlied? Wird man nicht beim Lesen, wenn das Blut unruhig war, ganz still und zart und demütig?

Der Mond ist aufgegangen,

Die goldenen Sternlein prangen

Am Himmel hell und klar.

Der Wald steht schwarz und schweiget

Und aus den Wiesen steiget

Der weiße Nebel wunderbar.

Wie ein-fältig, ein-fach, wie schön, wie schön ist dieses Gedicht!

Liebe, wenn nur nicht die Zweifel wären, daß Lücken da sind, die nicht da sein dürfen … daß ich die Aufgaben nicht so erfüllen werde, wie ich es von mir verlange – es wäre der Zwiespalt in mir vielleicht überbrückt.

Das Manuskript von Masse Mensch konnte ich noch nicht nach Berlin schicken – es wurde in München beschlagnahmt! Ich hatte es an die Tochter des Doktor Sch. gesandt, die es vervielfältigen wollte. Dort fand eine Haussuchung statt, weil man bei ihr Briefe von „verdächtigen Festungsgefangenen“ vermutete. Die Polizei nahm mein Drama mit. Trotzdem es die Festungszensur passiert hatte. Ich habe alle möglichen Schritte unternommen.

Man lebt in Bayern. –