#381 Brief an B.
Datierung | *zwischen 1924-01-01 und 1924-07-15 |
Absendeort | Niederschönenfeld, Deutschland |
Verfasser | Toller, Ernst |
Beschreibung | Brief |
Provenienz | Original nicht ermittelt. |
Briefkopf | - |
Publikationsort | D1: Internationaler Rundfunk. In: Die Sendung, 1930, Nr. 22 vom 30.5., S. 347f. D2: Briefe aus dem Gefängnis (TW, Bd. 3, S. 408f.). Als Druckvorlage wurde D2 herangezogen, da nur diese Fassung in der Form eines Briefs abgefasst ist. Ob Toller einen Brief in einen Aufsatz oder aber einen Aufsatz in einen Brief umgearbeitet hat, kann nicht zweifelsfrei entschieden werden, auch wenn die direkte Ansprache im dritten Absatz (der erste Satz fehlt in D1) auf einen Brief hindeutet. |
Poststelle | - |
Personen |
B.
B. Toller, Ernst |
An B.
Was Sie mir über den Rundfunk berichten, hat mich sehr nachdenklich gemacht. Alle Mittel der Technik bergen zwei Kräfte: aufbauende und zerstörende. Die Menschen haben bis jetzt die kühnsten Berechnungen, die herrlichsten Erfindungen dazu benutzt, einander totzuschlagen, Städte zu vergasen, Länder zu verwüsten.
Diese gefährliche Doppelkraft ist auch dem Rundfunk eigen. Ich kann mir wohl vorstellen, wie in künftigen Kriegen die Herrschenden Lügen über Lügen hinausfunken, die Welt verwirren, den Frieden verhindern. Dieser Gefahr begegnen wir nur dann, wenn wir in ruhigen Zeiten den Rundfunk dazu gebrauchen, daß die Völker sich kennen lernen, so daß Hetzapostel in den leeren Raum sprechen.
Erinnern Sie sich noch, was in Deutschland die Franzosen, die Russen, die Engländer galten? Alle Russen waren barbarische Analphabeten, alle Engländer hinterlistige Krämerseelen, alle Franzosen degenerierte Schwächlinge.
Und wie wurden wir Deutschen von der anderen Seite dargestellt? Den meisten Menschen mangelt es an Phantasie. Könnten sie sich die Leiden anderer vorstellen, würden sie weniger Leiden zufügen. Was hat eine deutsche Mutter von einer französischen getrennt? Schlagworte, die das Ohr für Wahrheit taub machen. Hier beginnt die Arbeit des Rundfunks. Das Volk in Deutschland muß erkennen, daß das Volk in Frankreich die gleichen täglichen Freuden und Nöte erlebt, daß die Steuern hier und drüben drücken, daß die Lasten hier und drüben ungleich verteilt sind, daß die Ursachen von Armut und Elend nicht jenseits der Grenzen liegen. Wir wissen wenig voneinander. Unsere Schulbildung ist lückenhaft und voller Vorurteile.
Der Neger ist für uns ein exotisches Wesen, das ab und zu Jazz-musik macht, der Jude ein Wucherer, der täglich und stündlich darauf bedacht ist, anderen das Fell über die Ohren zu ziehen.
Was wissen wir von den Negern in Afrika? Von den großen, sozialen Kämpfen der Neger in Amerika? Wer würde für möglich halten, daß in den Südstaaten von Nord-Amerika, trotz freier Verfassung die große Masse der Farbigen vom Wahlrecht ausgeschlossen ist, daß in Polen viele Juden Handwerker und Arbeiter sind?
So wenig wie wir, wissen die andern. Ich wurde in Frankreich von amerikanischen Studenten gefragt, ob es wahr ist, daß bei uns in Deutschland die Schulkinder schon zum Frühstück Bier bekommen, ob die Bayern deutsch sprechen. Was könnte der Rundfunk leisten!
In den Zeitungen lesen wir immer von kriegerischen Gelüsten der anderen. Was würde es bedeuten, wenn die großen Friedensdemonstrationen in England und Frankreich in Deutschland hörbar würden?
Voraussetzung ist, daß der Rundfunk mutig ist. Seine Aufgaben können nicht überschätzt werden. Damit er sie erfüllen kann, ist es notwendig, ihn zum Instrument jener zu machen, die am Aufbau menschlicher Gesellschaft arbeiten.