Ernst Niekisch (* 23. Mai 1889 in Trebnitz; † 23. Mai 1967 in West-Berlin) war ein deutscher Politiker und politischer Schriftsteller.
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Ernst Toller (*1. Dezember 1893 in Samotschin, Provinz Posen; gestorben am 22. Mai 1939 in New York City, New York) war ein deutscher Schriftsteller, Politiker und linkssozialistischer Revolutionär.
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#375 Brief an Ernst Niekisch
Datierung | 1924-06-10 |
Verfasser | Toller, Ernst |
Beschreibung | Brief, 2 S., M |
Briefkopf | - |
Publikationsort | D: Briefe aus dem Gefängnis (TW, Bd. 3, S. 403). |
Personen |
Niekisch, Ernst
Hartig, Valentin Toller, Ernst Niekisch, Ernst |
Institutionen | Großes Schauspielhaus (Berlin) |
Werke | Der deutsche Hinkemann |
Mein lieber Niekisch,
„wie weit“ ich im „Hinkemann“ gekommen war, weiß ich nur zu gut –
(darum hat mich Dein Brief über die „Kriegskrüppel-Tragödie“ befremdet. Es überraschte mich, daß Du, gleich den Zeitungskritikern, Rankenwerk sahst und nicht den Kern.
Die großstädtischen Kritiker – welch steriles, instinktloses, blutloses Menschengelichter da agiert und posiert und intellektelt. Sie haben den Sinn für komplizierte Begriffsproblematik, ihnen fehlt aber der Sinn für einfache tiefe Lebens problematik. Die dünkt sie banal.
Sag, warst Du es nicht, zu dem ich einmal sagte: Hinkemann ist ein Werk, das erst verstanden wird nach dem Siege der Sozialisten?
Der Politiker in mir spricht: Du tust nicht Zweckvolles, daß Du ‚Hinkemann‘ zur Aufführung freigibst.
Aber: wie dem Religiösen Heil der Seele wichtiger dünkt als Glück der Welt, macht der Künstler nicht Halt vor den Schleiern, die im Leben des Menschen die Altäre bedeuten, vor denen er kniet, die ihm (‚zeugende Gespenster‘) Kraft und Impuls geben, ein irrationaler Zwang treibt ihn, Schleier zu zerreißen, auch wenn die zerrissenen Leben lähmen. Doch muß das Erlebnis vorausgehen, das Erlebnis der Erkenntnis.
Wir werden in Berlin miteinander sprechen. –
(Politiker und Künstler, Politiker und Religiöser, Politiker und (absoluter) Ethiker – ich bin mir endlich klar geworden, was sie im Wesen scheidet. Kein Beschönigen, Verkleistern hilft).
– Lieber Niekisch: Gott helfe mir, hier sitze ich, ich kann nicht anders, ich muß Dich in große Verlegenheit setzen! Von allen Seiten werde ich bestürmt. Ich sollte gleich nach meiner Freilassung in Braunschweig, Danzig, Karlsruhe, Remscheid, Dresden, Leipzig sprechen, man wollte mich in Berlin im Großen Schauspielhaus und andern Sälen „feiern“ – ich habe überall abgesagt. Ich will mich nicht feiern lassen. (6000 sitzen noch!)
Ich würde stottern, sähe ich ein, daß ich damit der Sache diente. Ich sehe es nicht ein. Etwas Anderes wärs, ich käme in – labile Situation. Die existiert nicht. (Ich werde auch Valtin in Verlegenheit setzen, es hilft kein Zureden.)
Ich will schauen, lauschen, arbeiten – dann mag mir das Wort kommen, das der Sache wirklich dient.
Bald nach meiner Freilassung komme ich zu Dir.
Deiner Gefährtin, Dir, Ernstle
gute Grüße.
Dein E. T.
Fest Niederschönenfeld, 10. Juni 24.