Nettie Sutro-Katzenstein (* 1. November 1889 in München; † 21. September 1967 in Zürich) war eine Schweizer Historikerin und Flüchtlingshelferin.
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Ernst Toller (*1. Dezember 1893 in Samotschin, Provinz Posen; gestorben am 22. Mai 1939 in New York City, New York) war ein deutscher Schriftsteller, Politiker und linkssozialistischer Revolutionär.
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#359 Brief an Nettie Katzenstein
Datierung | 1924-03-16 |
Absendeort | Niederschönenfeld, Deutschland |
Verfasser | Toller, Ernst |
Beschreibung | Brief |
Provenienz | Original nicht ermittelt. |
Briefkopf | - |
Publikationsort | Briefe aus dem Gefängnis (TW, Bd. 3, S. 405f.). |
Personen |
Katzenstein, Nettie
Toller, Ernst Katzenstein, Nettie |
16.3.24
An Tessa.
Ich muß Dir von Gedanken erzählen, die mich, seit ich Deine Grüße aus Venedig empfing, verfolgen. Sehr stark empfand ich die Schönheit, das Beschwingte, Ungebundene eurer Tage am Gardasee, in –Venedig. –
Werde ich mich hingeben, mich verlieren können, wie Du es kannst? Werde ich je wieder die Schwere des Wissens verlieren, die in diesem Haus auf mir lastet? Solange ich nicht meine Aufgabe, die anderen zu befreien, erfüllt habe, werde ich nicht rasten können, ohne beklommen und zwiespältig zu sein.
Hier drinnen kann man wahrlich wenig wirken. Und doch vergeht kaum ein Tag, an dem ich nicht „Nein“ sagen muß, wenn ich Rechenschaft fordere, und: Du erfülltest nicht, was die von Dir fordern dürfen, zu denen Du sprichst, mit denen Du kämpfst.
Die Verantwortung ist groß. Meine Bücher bedeuten vielen Menschen mehr, als Bücher sonst bedeuten.
Heute in vier Monaten bin ich frei. Nachts schlafe ich kaum noch. Wache ich auf, peinigt mich ein physischer Druck. Aus Trägheit bist Du dort nicht eingedrungen und dort nicht, wie oberflächlich tappst Du um diese Not und um jene, obwohl Du fünf Jahre lang arbeiten, nachdenken, aufbauen konntest.
Ich habe die folgenlosen Reden hassen gelernt. Gewiß, Unzählige haben sich einen rechten Götzen gemacht, weil sie zu schwach sind, ohne Götzenbilder zu leben.
Ohne Götzenbilder leben können, das ist eine der entscheidenden Fragen. Götzenbilder sind sogar die Fiktionen, die als „lebensnotwendig“ gelten.
Fromm sein wie der, der an Götzenbilder glaubt – und doch kein Götzenbild nötig haben. Keines. Dennoch wollen. Dennoch handeln. Wer es kann, der ist frei.