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Paul Gustav Emil Löbe (* 14. Dezember 1875 in Liegnitz, Schlesien; † 3. August 1967 in Bonn) war ein deutscher Politiker (SPD) und Reichstagspräsident.

August Hagemeister (* 5. April 1879 in Detmold; † 16. Januar 1923 in Niederschönenfeld) war ein deutscher Politiker (SPD/USPD/KPD). Er war Abgeordneter des Bayerischen Landtages (1920–1923).

Erich Kurt Mühsam (6. April 1878 in Berlin – 10. Juli 1934 im KZ Oranienburg) war ein anarchistischer deutscher Schriftsteller, Publizist und Antimilitarist. Am 10. Juli 1934 von der SS-Wachmannschaft des KZ Oranienburg ermordet.

Gustav Kiepenheuer (* 10. Juni 1880 in Wengern; † 6. April 1949 in Weimar) war ein deutscher Verleger.

Ernst Toller (*1. Dezember 1893 in Samotschin, Provinz Posen; gestorben am 22. Mai 1939 in New York City, New York) war ein deutscher Schriftsteller, Politiker und linkssozialistischer Revolutionär.

Paul Gustav Emil Löbe (* 14. Dezember 1875 in Liegnitz, Schlesien; † 3. August 1967 in Bonn) war ein deutscher Politiker (SPD) und Reichstagspräsident.

#322 Brief an Paul Löbe

Datierung 1923-09-19
Absendeort Niederschönenfeld, Deutschland
Verfasser Toller, Ernst
Beschreibung

Brief, 5 S., M

Brief, 5 S., T

Provenienz AdK, Berlin, Ernst-Toller-Archiv, Nr. 93 (Kopie)
Briefkopf -
Publikationsort Justiz-Erlebnisse (TW, Bd. 3, S. 76–78).
Briefe aus dem Gefängnis (TW, Bd. 3, S. 389–391).
Quer durch (TW, Bd. 4, S. 129–131).
Personen Löbe, Paul
Hagemeister, August
Hoffmann, Heinz
Mühsam, Erich
Kiepenheuer, Gustav
Jahn, Erwin
Toller, Ernst
Löbe, Paul
Institutionen Festungshaftanstalt Niederschönenfeld
Werke Das Schwalbenbuch

An den Deutschen Reichstag.

z. H. d. Reichstagspräsidenten Herr Paul Löbe.

Eingabe des Schriftstellers Ernst Toller,

z. Z. Festungsgefangener in Niederschönenfeld.

Betrifft: Gesetzwidrige Behinderung literarischer Tätigkeit durch Strafvollzugsbehörden und Antrag auf Wahrnehmung der verfassungsmässigen Kontrolle gegenüber den betr. Behörden.

Am 15. September übergab ich der Verwaltung der Festungshaftanstalt zur Weiterbeförderung drei Manuskripte meines letzten Werkes „ Das Schwalbenbuch “. Das eine Exemplar war für meinen Verleger Gustav Kiepenheuer – Potsdam, die beiden andern Exemplare waren für Freunde bestimmt.

Am 17. September las mir der Festungsvorstand Herr Oberregierungsrat Hoffmann eine „Eröffnung“ vor, die ich, da ich trotz ausdrücklichen Ersuchens keine Abschrift erhielt, mich bemühe, dem Sinn nach wiederzugeben.

Nach § 22 der Hausordnung werde das Schwalbenbuch beschlagnahmt, da es eine Reihe von Stellen enthalte, deren Verbreitung dem Strafvollzug Nachteile bereiten würde.

Das erste Gedicht „Ein Freund starb in der Nacht“ stelle eine agitatorische Benutzung des Todes des früheren Festungsgefangenen Hagemeister dar.

In einem Gedicht sei von „Gitterloch“ u. ä. die Rede. Das wirke agitatorisch.

In einem Gedicht werde eine entstellte Darstellung der üblichen Säuberung der Dachrinnen vom Schmutz gegeben. Gleichzeitig werde das Verhalten der Aufsichtsbeamten herabgesetzt, in dem es als gefühlsroh bei der Säuberung von Dachrinnen hingestellt werde. („Menschen Menschen“)

In einem Gedicht komme die Zeile vor:

„Opfernd

Im todnahen Kampf heroischer Fahne“.

Das sei politische Hetze.

Mündlich sagte mir Herr Oberregierungsrat Hoffmann:

Das Buch enthalte agitatorische Stellen in solcher Häufung, dass es auch als Ganzes als „ Hetze “ wirke.

Auf meinen Einwurf, wer z. B. draussen beim Lesen des ersten Gedichtes wohl an Hagemeister denke, antwortete er:

Ich (der Verfasser, T.) wäre bei den Beschwerden, die nach dem Tode Hagemeisters einsetzten, einer der „ Rädelsführer “ gewesen, und darum würde jeder draussen wissen, welche Agitation ich damit bezwecke. –

Dies der Tatbestand, den ich, beschwerdeführend, dem Reichstag unterbreite.

Wäre der Vorfall nicht so ernst in seinen Folgen für mich, würde durch den Entscheid nicht eine empfindliche Schädigung meiner beruflichen Aufgaben eintreten, – ich wäre geneigt, kopfschüttelnd diesen Entscheid hinzunehmen wie so viele ähnliche.

Um die Willkür deutlich zu machen, ist es vielleicht angebracht darauf hinzuweisen, dass ich das Gedicht, in dem die „hetzerische“ Stelle „Opfernd Im todnahen Kampf heroischer Fahne“ vorkommt, noch vor zwei Wochen unbeanstandet an Dr. E. Jahn – Leipzig senden durfte!!

An den Deutschen Reichstag richte ich das Ersuchen, dahin zu wirken, dass die gesetzwidrige Beschlagnahme meines Werkes aufgehoben werde, ferner, Normen zu beschließen, die künftig Beschlagnahmen literarischer Werke in Haftanstalten unmöglich machen.

Ich habe nie um Gnade für mich gebeten. Ich will auch heute keine Gnade von Ihnen. Ich erwarte, dass Sie mir zu dem Recht verhelfen, das ich als politischer „Ehrenhäftling“ beanspruchen darf. Unter dem barbarischen Regime der Zarenknute war es in Russland eingekerkerten Schriftstellern möglich, sich die Freiheit des Geistes zu retten. Im Freistaat Bayern wird im Jahre 1923 die Freiheit des Geistes als Verbrechen geahndet.

Ich habe geschwiegen, als der Festungsvorstand mir vor einigen Monaten, in gesetzwidriger Weise, verbot, mit einer Verwandten, die Ärztin ist, und die mich besuchte, über meinen gesundheitlichen Zustand auch nur mit einem Satz zu sprechen.

Ich habe, aus dem Gefühl der Verachtung, bei Vorfällen geschwiegen, die ebenso eindeutig das vollkommene Fehlen jeder Rechtsnorm im Strafvollzug für bayerische sozialistische Gefangene darlegen.

Ich habe, aus dem Gefühl der Verachtung geschwiegen, als bayerische Behörden von der Tribüne des Landtags herab und in der Presse mich, den Wehrlosen, mit Schmutz bewarfen.

Ich habe, aus dem Gefühl der Verachtung, geschwiegen, als die Festungs-Verwaltung, durch Beschlagnahme der Zeitungen, verhinderte, dass ich wenigstens von dem Inhalt der Anwürfe Kenntnis bekäme.

Ich habe mich darauf beschränkt, die unzähligen Eingaben zu unterstützen, die von den Festungsgefangenen bei den verschiedenen Landes- und Reichsstellen eingereicht wurden.

Einmal allerdings schwieg ich nicht: als ich nach dem entsetzlichen Tod August Hagemeisters den Anstaltsarzt beim I. Staatsanwalt in Neuburg wegen fahrlässiger Tötung anzeigte. Damals musste ich erkennen, dass es für den sozialistischen Gefangenen in Bayern kein geschriebenes Recht gibt. Ich, als Anzeigender, wurde nicht einmal vernommen.

Heute wende ich mich an den Deutschen Reichstag.

Wollen Sie dulden, dass einem Strafvollzugsbeamten das Recht zugesprochen wird, Werke der Deutschen Literatur nach Belieben zu unterdrücken?

Wollen Sie dulden, dass ein Gefangener, nur weil er revolutionärer Sozialist ist, in der Republik Deutschland ausserhalb des Gesetzes steht?

Ernst Toller.

Mitglied des Bayerischen Landtags.

Fest. Niederschönenfeld, 19. September 23.

Anlagen: 1.) Manuskript „Das Schwalbenbuch“ von Ernst Toller

2.) Eingabe des Schriftstellers Erich Mühsam

3.) Manuskript „Der unsichtbare Kreis“ von Erich Mühsam.