#309 Brief an Elsbeth B.
Datierung | 1923-06-30 |
Absendeort | Niederschönenfeld, Deutschland |
Verfasser | Toller, Ernst |
Beschreibung | Brief |
Provenienz | Original nicht ermittelt. |
Briefkopf | - |
Publikationsort | Briefe aus dem Gefängnis (TW, Bd. 3, S. 386f.). |
Personen |
B., Elsbeth
B., Elsbeth Toller, Ernst |
Werke | Die Maschinenstürmer |
An Elsbeth B.
Als ich Ihren Brief ein-, zweimal, oft gelesen hatte, und die Güte spürte, die trotz aller Schroffheit darin klingt, konnte ich dennoch nicht die Berechtigung Ihrer Vorwürfe anerkennen, Ihres einen entscheidenden Vorwurfes: ich ließe mich feiern von den Leuten, und es mangle mir die Selbstkritik. Woher wissen Sie das? Wie dürfen Sie einen Vorwurf von solcher Schwere erheben, ohne geprüft zu haben? Warum kommen Sie nicht auf den Gedanken, ich könnte Opfer eines Verherrlichungsbedürfnisses sein, das Zeugnis ablegt für die verzweifelte Ohnmacht der Zeit? „Es mangle mir die Selbstkritik.“ Das heißt in dürren Worten: es mangle mir das Verantwortungsgefühl des schaffenden Menschen. Sagte mir das ein anderer Mensch als Sie, ich lächelte … in Erinnerung an die Jahre unerbittlichen Arbeitens, Formens, Verwerfens, Neugestaltens und Wiederverwerfens, in Erinnerung an die Jahre tiefer und demütiger Hingabe an das Werk, das mir Leben bedeutet, wie das Leben mir Werk bedeutet. Da Sie es mir sagen, lächle ich nicht, sondern sage: Glauben Sie es, dann müssen unsere Wege einander fern verlaufen. Ich kann auch einem Freunde nicht gestatten, an der Wurzel meines Seins zu zweifeln.
Sie sprechen von den „Maschinenstürmern“. Ich bin für Verschandelungen, melodramatische Versüßlichungen, Regie-Rotstifte nicht verantwortlich und habe, solange ich hier gefangen sitze, keinen Einfluß auf die Art der Darstellung. – Jeder Vergleich mit den „Webern“ hinkt. Als ich die „Maschinenstürmer“ schrieb, hatte ich dieses Werk an die zwölf Jahre nicht mehr gelesen, nein, ich hatte es vorher nie gelesen, hatte es als Knabe nur auf der Bühne einer Provinzstadt spielen sehen. Ich hütete mich, es in jener Zeit zu lesen. Was mir als Erinnerung blieb, war die Tragödie der dumpfen, der aus Hunger und Verzweiflung rebellischen Massen. Ich wollte (unter anderem) gestalten: das erste Erwachen des Volkes zu revolutionärem Bewußtsein.