#306 Brief an B.
Datierung | 1923-06-28 |
Absendeort | Niederschönenfeld, Deutschland |
Verfasser | Toller, Ernst |
Beschreibung | Brief |
Provenienz | Original nicht ermittelt. |
Briefkopf | - |
Publikationsort | Briefe aus dem Gefängnis (TW, Bd. 3, S. 384). |
Poststelle | - |
Personen |
B.
B. Toller, Ernst |
28.6.23
An B.
Reaktion und Kleinbürgertum rufen heute mit der gleichen Inbrunst nach der Diktatur und meinen: einen Diktator mit unbeschränkter Machtfülle. Dieser Ruf ist Ausdruck einer seelischen Stimmung, die erschreckt, weil sie auch die Massen ergreift. (Man wartet in passiver Lethargie auf die Parole – ohne Parole wird weder gedacht noch gehandelt.) Der Wille zum Diktator ist der Wille zur Selbstentmannung, zur Knechtschaft, oder, wie man es heute gerne nennt, der Wille zur Gefolgschaft.
Ist dieses Phänomen eine Folge des Krieges? Erst lehrte man den Soldaten, nicht selbst zu denken, nicht selbst einen Entschluß zu fassen, am Ende war er damit zufrieden. Ein Führer trägt die Verantwortung, gibt die großen und kleinen Befehle, und alles geht seinen Gang. Es ist bequem, verantwortungslos zu leben, ja sogar bequem, verantwortungslos zu sterben.
Wahre Demokratie ist unbequem, sie bedeutet intensive Teilnahme des Volks am öffentlichen Leben, Selbstverwaltung, Verantwortungsfreudigkeit jedes einzelnen. Wahre Demokratie ist die Form, in der das Individuum sich aufs reichste entfalten kann.