#305 Brief an [unbekannt]
Datierung | 1923-06-25 |
Absendeort | Niederschönenfeld, Deutschland |
Verfasser | Toller, Ernst |
Beschreibung | Brief |
Provenienz | Original nicht ermittelt. |
Briefkopf | - |
Publikationsort | Briefe aus dem Gefängnis (TW, Bd. 3, S. 383f.). |
Poststelle | - |
Personen |
[unbekannt]
[unbekannt] Toller, Ernst |
25.6.23
An einen jungen Arbeiter.
Du schriebst, Du erkennst immer tiefer die Vielfältigkeit der sozialen Probleme, die Du einst glaubtest, nach der Lektüre einiger Parteibroschüren (die sicher von edler Leidenschaft und glühendem Willen erfüllt waren), im ersten Ansturm lösen zu können. Du bist auf dem rechten Weg.
Als Kinder sind wir dem Kreatürlichen, den Dingen in einer Weise verbrüdert, deren tiefe Lebensnähe wir erst als Männer ahnen. Dann kommen die Jahre, wo wir scheiden und unterscheiden, durch Erkenntnis verwerfen und bejahen, wo wir Intellektuelle werden und unser Hirn sich anfüllt mit dem Wissensstoff und dem Bücherextrakt gelebter Kämpfe. Wo wir uns vom Sinnlich-Lebendigen entfernen und vorstoßen in das Reich der Abstraktion. Jetzt beginnt die große Wegscheidung. Die meisten finden nicht mehr heraus. Sie glauben das Leben zu deuten und – wissen nicht, wie fern sie dem Leben sind. Wenigen gelingt es, alles Wissen haltend, hineinzuwachsen in einen neuen Stand der Kindheit, der mit der ersten Kindheit gemeinsam hat die tiefe, instinktsichere Lebensnähe und ihr voraus hat das umfassende Wissen. Dort ist der Mensch zugleich in allem und über allem.