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Alfred Kerr (* 25. Dezember 1867 in Breslau; † 12. Oktober 1948 in Hamburg) war ein deutscher Schriftsteller, Theaterkritiker und Journalist.

Alfred Kerr (* 25. Dezember 1867 in Breslau; † 12. Oktober 1948 in Hamburg) war ein deutscher Schriftsteller, Theaterkritiker und Journalist.

Friedrich Martin Adalbert Kayssler, auch Friedrich Kayßler (* 7. April 1874 in Neurode; † 24. April 1945 in Kleinmachnow bei Berlin) war ein deutscher Schauspieler sowie Schriftsteller und Komponist.

Hugo Stinnes (* 12. Februar 1870 in Mülheim an der Ruhr; † 10. April 1924 in Berlin) war ein deutscher Industrieller und Politiker.

Ernst Toller (*1. Dezember 1893 in Samotschin, Provinz Posen; gestorben am 22. Mai 1939 in New York City, New York) war ein deutscher Schriftsteller, Politiker und linkssozialistischer Revolutionär.

#288 Brief an Alfred Kerr

Datierung 1923-04-06
Absendeort Niederschönenfeld, Deutschland
Verfasser Toller, Ernst
Beschreibung

Brief, 2 S., M

Provenienz AdK, Berlin, Alfred-Kerr-Archiv, Nr. 363
AdK, Berlin, Ernst-Toller-Archiv, Nr. 111 (Kopie)
Briefkopf -
Publikationsort Kasimir Edschmid (Hrsg.): Briefe der Expressionisten. Frankfurt/Main, Berlin: Ullstein 1964, S. 133-136.
Personen Kerr, Alfred
Kerr, Alfred
Kayssler, Friedrich
Stinnes, Hugo
Toller, Ernst
Institutionen Volksbühne Berlin
Werke Die Wandlung
Der deutsche Hinkemann

Niederschönenfeld, 6.4.23.

Sehr verehrter Herr Alfred Kerr,

einen Gruß erlaubte ich mir Ihnen zu schicken.

Keinen, der zu Bett-Ruhe und Bett-Ordnung mahnt. Keinen unproblematischen (also: lebensfernen), blonden, schlichten. (Obwohl Probleme dem Zeitgenossen nahe zu bringen, scheinbar nicht mehr als Wert moderner Dramatik angesehen wird. Ein berliner Kritiker hob neulich, rühmend hervor: dem Autor kommen die Probleme nicht zu nahe. – Man sollte meinen, sie könnten ihm nie nahe genug kommen!! – Aber jener Kritiker scheint die Sehnsüchte seiner Zeitgenossen zu kennen. Genügt nicht die Nähe des Problems: Baisse oder Hausse? Steigt der Dollar oder steigt er nicht?)

Die Uraufführung des Werks findet am berliner Deutschen Theater statt. Nicht vor dem Forum, vor dem ich das Stück gespielt wissen möchte. Denn es gehört vor Proleten – in erster Linie. Die verstehen würden, daß was Anklage wurde, Klage und Rufe – liebende Anklage ist. Während der Kurfürstendamm wahrscheinlich sagen wird: „Aha, neue Wandlung. Verlorener Sohn hat heimgefunden. Komm an unser Herz, reuiges Schaf. Wir sind ja nicht so.“

(Als ob, wer die tragische Grenze der Glücksmöglichkeiten sozialer Revolutionen ahnt, darum weniger rigoros für die Umgestaltung sozialer Un-Ordnung zu kämpfen gewillt ist!)

Leider hat die Volksbühne abgelehnt. Das Thema: „zu speziell“, „zu abseitig“. „Daß ein zahlreiches, Schulter an Schulter sitzendes Publikum durch das Motiv Ihres Stückes genötigt wird, zu gleicher Zeit und fast ununterbrochen an die heikle Verstümmelung Hinkemanns zu denken, das erscheint Herrn Kaißler als keine glückliche Forderung, ja auch dem Zweck, den Sie erreichen wollen, ungünstig zu sein“. So: die Volks-Bühne. (Spr: Volks-Bühne). Tja.

Eigentlich wollte ich Ihnen … nicht schreiben, sehr verehrter Herr Kerr. Aber was in gewissen Zeiten Ausdruck erhöhter Achtung sein kann, braucht in andern Zeiten es nicht zu sein. Sondern: Gekünsteltes Versteckspielen.

In einer Zeit, da die Realpolikritiker den Boden der stinnesierten Tatsachen wiedergefunden haben und sich indigniert abwenden, bewahren Sie mir Ihr Vertrauen. Dafür wollte ich Ihnen danken.

(Übrigens gibts viele, die nicht über mich indigniert sind. Welche sinds über sich: Wehmutheimer, die sich an mir dafür rächen, daß sie bei der „Wandlung“ in à la mode-Ekstase fielen! – Aber was liegt am Kurfürstendamm und was liegt an den Realpolikritikern. Doch: etwas liegt daran. Ich bin so arm an „harmlos heiteren“ Stunden, daß ich alle meine guten Geister bitte, sie mögen mir die wenigen Anlässe bewahren. Im Winter wenigstens. Jetzt im Frühling bin ich überreich, und will ich mich „harmlos“ ergötzen, lausche ich dem Froschkonzert im nahen Teich. – In der nächsten Woche erwarte ich das Schwalbenpärchen, das im vorigen Jahr in meiner Zelle wohnte. Und: lungenkrank bin ich auch nicht. Hab auch keine [„]eingefallenen Wangen“. (Ich muß immer an das Lied vom armen Bergmannskind denken. Wo sofui Gfui drin ist.) Ha, nun spüren Sie meine Bitte: Bemitleiden Sie mich nicht! – (Das Ganze läßt sich auch ohne Mitleid mit einem einzelnen [unleserlich] sehen!) Aus Verehrung

Ernst Toller