Nettie Sutro-Katzenstein (* 1. November 1889 in München; † 21. September 1967 in Zürich) war eine Schweizer Historikerin und Flüchtlingshelferin.
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Ernst Toller (*1. Dezember 1893 in Samotschin, Provinz Posen; gestorben am 22. Mai 1939 in New York City, New York) war ein deutscher Schriftsteller, Politiker und linkssozialistischer Revolutionär.
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#285 Brief an Nettie Katzenstein
Datierung | 1923-03-14 |
Absendeort | Niederschönenfeld, Deutschland |
Verfasser | Toller, Ernst |
Beschreibung | Brief |
Provenienz | Original nicht ermittelt. |
Briefkopf | - |
Publikationsort | Briefe aus dem Gefängnis (TW, Bd. 3, S. 374–376). |
Personen |
Katzenstein, Nettie
Toller, Ernst Katzenstein, Nettie |
14.3.1923
An Tessa.
Ich habe vor zwei Tagen den ersten Fink im Hof gesehen! Auf einem Rasenfleck saß er, wippte mit seinem Schwänzchen, rührte die wunderschönen bunten Flügelchen und ließ sich anfangs durch mein Näherkommen gar nicht stören. Als ich ihm dann zu nahe auf den Pelz – auf das Federkleid, muß man wohl richtiger sagen, rückte, flog er nicht etwa davon, sondern hüpfte nur gemächlich ein paar Schritte weiter. Und als ob wir irgend ein drolliges Spiel verabredet hätten, oder als ob er mich necken wollte, gings so weiter, die ganze Hofrunde entlang. Ich war unendlich glücklich über das kleine Wesen, das von Euch, vom Süden, in unser graues, trübes, nebliges Land heimkehrte, und das uns, ob wir gleich immer wieder morgens in den lastenden Nebelhimmel enttäuscht und dumpf schauen, die Gewißheit, die Gewißheit! gibt: jetzt werden wir endlich blauen Himmel und Sonne schauen.
Kein Winter noch schien mir so lang wie der letzte: ich glaube, wir hatten keinen einzigen wirklich sonnigen Tag und kaum zehn Tage, an denen die Sonne einmal hervorkam. Niederschönenfeld liegt in der Moorgegend zwischen Donau und Lech, das erklärt viel, aber so schlimm wie heuer wars noch niemals.
Aber nun muß es doch bald anders werden, wir haben ja Mitte März, und im Hof fand ich das erste Märzblümchen, das sich trotz Nebel, Schnee, Regen, grauer feuchter Luft und immer verhangenem Himmel hervorgewagt hat. Da ich sah, daß gleich daneben noch ein zweites zum Frühling sich rüstet, pflückte ichs ab und schicke es Euch. Meine Beziehung zu allem Lebendigen wird immer fragiler. Als Knabe, als halbwüchsiger Bursche schoß ich Hasen, war leidenschaftlicher Jäger, mit Grauen denke ich heute daran. Dann kam der Krieg und Monate in Erdlöchern, in Waldverstecken und ein inniges Gefühl für Tier und Baum.
Ich habe vor einem Jahr tagelang nicht arbeiten, kaum schlafen können, so sehr war ich erregt über eine Mäusejagd, die Genossen im Hof anstellten, wobei sie die Mäuse in Eimern, die mit Wasser gefüllt waren, ersäuften. Eigentlich ist es falsch zu sagen, ich war erregt, -irgend ein heftig bohrendes Gefühl, das Du aber nicht mit sentimentaler Empfindlichkeit gleichsetzen darfst, quälte mich. Und heute begreife ich nicht mehr, wenn Menschen Unterschiede machen zwischen lebendigen Wesen und toten Dingen, ich lächle über die Unterscheidung. Ich gehe so weit, zu behaupten, daß der Stein gerade so ein Herz hat wie der Mensch, wie das Tier, daß in der Schneeflocke grad so der Atem des Lebendigen wirkt wie in der Blume. Neulich brachte die Berliner Illustrierte Zeitung Bilder von Schneeflocken, durchs Mikroskop gesehen. Welche herrlichen Formen. „Tote“ Flocken!
Es gehört zur Arroganz des Bildungsmenschen, Begriffe wie „Aufsteigen“ vom Anorganischen zum Organischen zu prägen, wo Verstummen geziemt.
Die Frage, die das 19. Jahrhundert so bewegt hat, wann, wo entstand Lebendiges, charakterisiert das 19. Jahrhundert.
Da schreib ich nun, ohne Deine erste dringende Frage zu beantworten: Ja, es geht mir wieder besser, ich bin den ganzen Tag auf, kann aber fast nichts tun, muß mich ruhig verhalten, Gespräche meiden und vor allem: Erregungen … Der Hans hat mich rührend gepflegt. Er legt Euch einen Brief bei. Wer er ist, wollt Ihr wissen. Ein Mann von etwa 37 Jahren, der 4 oder 6 Jahre im … Zuchthaus verbracht hat. Ein „Totschläger“, wie ihn das Gesetz heißt. Als junger Bursch kam er ins Raufen mit einem andern, der sein Mädel beleidigt hatte. Der andere zog sein Messer, er zog sein Messer, der andere traf nicht, er traf so unglücklich, daß der andere starb.
Vielen bin ich hier begegnet, die im Gefängnis, im Zuchthaus ärmer und ärmer wurden, haltlos, kriecherisch und hinterfotzig zugleich, großmäulig und feige, schwammig und ausgelaugt, gute Gefangene, aber nicht starke Menschen. Hans gehört zu den Ausnahmen. Ritterliche Gesinnung ist ihm eigen, um was es sich auch handeln möge; seelische Zartheit beobachte ich in Rede und Tun bei ihm. Unzugänglich allen, denen er nicht vertraut, und von denen er glaubt, sie würden ihm die Achtung versagen, auf die er Anspruch erhebt, auf die er Anrecht hat, erschließt er sich in schöner Ursprünglichkeit den wenigen, die er Freunde heißt.
Es gibt eine Sünde wider den Geist – bei seinen Mitmenschen die Liebesfähigkeit zu ertöten. –
Dumm ist Euer Knabe in der Schule? Tut garnichts. Es spricht weder gegen ihn, noch gegen Dich als Lehrerin. Seine Märchen haben mir gezeigt, welch prächtiger, lebensnaher Mensch er ist. Und Löcher reißt er sich in die Hosen, beschmutzt sich Gesicht und Hände? Seid doch glücklich darüber. Bewahr ihn ruhig so lang wie möglich vor Bewußtheit und Wahrheit. Du nimmst ihm Namenloses, Unwiederbringliches und bringst ihm Dinge, die der Rede wert sind.