Weitere Briefe
1,665 Briefe gefunden

René Schickele (* 4. August 1883 in Oberehnheim im Elsass; † 31. Januar 1940 in Vence, Alpes-Maritimes) war ein deutsch-französischer Schriftsteller, Essayist, Übersetzer und Pazifist.

Annette Kolb, mit bürgerlichem Namen Anna Mathilde Kolb, (* 3. Februar 1870 in München; † 3. Dezember 1967 in München) war eine deutsche Schriftstellerin.

Ernst Toller (*1. Dezember 1893 in Samotschin, Provinz Posen; gestorben am 22. Mai 1939 in New York City, New York) war ein deutscher Schriftsteller, Politiker und linkssozialistischer Revolutionär.

#278 Brief an Anna Schickele

Datierung 1923-01-26
Absendeort Niederschönenfeld, Deutschland
Verfasser Toller, Ernst
Beschreibung

Brief, 2 S., M

Provenienz DLA Marbach, Bestand A:Schickele, Zugangsnr. 60.681/2
Briefkopf -
Publikationsort Kasimir Edschmid (Hrsg.): Briefe der Expressionisten. Frankfurt/Main, Berlin: Ullstein 1964, S. 136f.
Personen Schickele, Anna
Schickele, René
Schickele, Rainer
Schickele, Hans
Kolb, Annette
Schickele, Anna
Toller, Ernst
Werke Masse Mensch
Der deutsche Hinkemann

Liebe Frau Änne Schickele,

ach, ich habe soviel Verständnis für Menschen, die nicht schreiben mögen, die es „echter und besser finden, sich in Gedanken zu unterhalten“ – ich gehöre nämlich selbst zu ihnen! Ich bin schon zufrieden damit, daß Sie mich zu denen rechnen, mit denen Sie in Gedanken sprechen mögen. Und wenn dann ab und zu ein Gruß kommt, und gar ein so liebenswerter wie der letzte – dann werde ich ausgelassen fröhlich. – Also Sie hegen einen Garten und pflegen Kuh, Schweine, Hühner und gar einen treuen Esel! Nein, da haben Sie mich nicht vergeblich eingeladen, ich komme gewiß. Und ich freue mich darauf, wenn ich mich von Rainer und Hans führen lassen und rumstrolchen darf. Wie ein Chinese will ich vor jeder Ihrer Blumen mich andächtig verbeugen, und schon heute nehme ich mir vor, der Schönsten ein Denkmal zu errichten. O, ich verstehe so gut, daß Sie die Kuh mit dem heiligen Kopf und den wunderbaren Augen lieben. Ich las neulich ein Gebet, das ich zu den schönsten zähle, die der Mensch sprechen kann. Der Parse betet: „Möchte ich der Seele meines Rindes gefallen.“ Sagen Sie, ist dieses Gebet nicht tausendfach schöner, als alle Gebete, die Wechsel darstellen auf Bar-Bezahlung bei Gnaden-Einlösung? Als ich dieses Gebet las, dachte ich gleich an Sie, auch ich könnte mir gut vorstellen, wie Sie von nun an jeden Morgen wortlos diese innigen, lebensnahen Worte sprechen werden.

Auch mir sind Tiere gut. Nun gucken Sie mich groß an ... Denken Sie doch: im vorigen Jahr zog ein Schwalbenpärchen in meine Zelle, baute sich drinnen, über der kleinen, schmalen häßlichen Tür, sein Nest, lebte den Sommer, bis in den Oktober hinein, bei mir und bekam zweimal Junge!!! In keiner Zelle sonst wohnten Schwalben, nur bei mir. Nicht einen, viele hundert Briefe müßte ich schreiben, um Ihnen zu erzählen, wie die Schwalben mir freund wurden, was alles sie mich schauen ließen: Verliebtheit und Eifersucht, bräutliche Zärtlichkeit und ehelichen Hader, Mutterfreude und Vaterfürsorglichkeit, köstlichste Hingabe und erschütternde Trauer um tote Junge. Und wie sie erst den Jungen das Fliegen beibrachten! Einen der rührendsten Züge muß ich Ihnen heute schon erzählen: In den ersten Lebenswochen ließen die Jungen ihre weißen Würstchen ins Nest fallen. Der Alte kam, stopfte den Jungen Nahrung in die ungeheuer weit aufgerissenen großen Schnäbel, beugte sich dann ins Nest nieder, hob sachte ein weißes Würstchen auf und trug es davon. So blieb das Nest immer sauber. Später lernten die Jungen dann auf den Nestrand klettern, ihr Schwänzchen nach oben strecken und den Klacks übers Nest hinaus fallen zu lassen. (Ich brachte fürsorglich ein Nachttöpfchen in Gestalt eines Brettes an). – Ahnen Sie, wie ich die Tage zähle bis zum Wiedersehen! Wo mögen sie jetzt wohl sein, die Glücklichen! (Von der „großen Zeit“ hören sie sicher nichts!) Leben Sie für heute recht wohl, liebe Frau Änne Schickele, grüßen Sie herzlichst René Schickele und Annette Kolb, natürlich auch die Jungen.

Ihr Ernst Toller.

Fest Niederschönenfeld, 26.1.23.

Bekamen Sie „Masse Mensch“? – Wollen Sie mir schreiben, was Ihnen Allen der „H“ bedeutet?