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Ernst Toller (*1. Dezember 1893 in Samotschin, Provinz Posen; gestorben am 22. Mai 1939 in New York City, New York) war ein deutscher Schriftsteller, Politiker und linkssozialistischer Revolutionär.
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#272 Brief an [unbekannt]
| Datierung | 1922-??-?? |
| Absendeort | Niederschönenfeld, Deutschland |
| Verfasser | Toller, Ernst |
| Beschreibung | Brief |
| Provenienz | Original nicht ermittelt. |
| Briefkopf | - |
| Publikationsort | Briefe aus dem Gefängnis (TW, Bd. 3, S. 367). |
| Personen |
[unbekannt]
[unbekannt] Toller, Ernst |
An ein Kind.
Heute endlich schreibe ich Dir den versprochenen Brief.
Ich hatte schon ein böses Gewissen, weil ich Dich gar so lange warten ließ, aber, weißt Du, hier merkt mans gar nicht, ob eine Woche, oder zwei, oder drei vergangen sind, und ob es Sonntag ist, oder Mittwoch, oder Freitag. Ich glaub, Du kennst so etwas ähnliches, wo Du auch nicht mehr weißt, ob es Alltag ist oder Feiertag: wenn Du tanzest. Nur ist das viel schöner, was Du kennst.
Während ich schreibe, gucken mir zwei Spatzen zutraulich zu. Die sitzen draußen am Fenster und picken an einem Stückchen Speck, das ich ihnen an einem Eisenstab mit einem bunten Bändchen befestigte. Erst fürchteten sie sich vor der Farbe des Bändchens, aber dann kamen sie doch. Die Vögel alle halten mit uns gute Freundschaft. Vor das Gangfenster haben Freunde ein kleines Futterhaus gestellt. Dorthin kommen Spatzen, Finken, Meisen. In der letzten Zeit kamen die Meisen nicht mehr, wir fürchten drum, sie sind erfroren. Das waren die zierlichsten Tierchen, alle kleine Tänzerinnen. Und auf den Hof kommen die Krähen. Schon am frühen Morgen sitzen ein paar auf den höchsten Spitzen der Bäume „draußen“ und passen auf, ob Brotbrocken hinuntergeworfen werden. Geschieht es, so geben sie ihren Kameraden Nachricht. Die fliegen dann eilends herbei. Manchmal, wenn kein Brot unten liegt und eine Krähe rechten Hunger hat, kommt es vor, daß sie einem Spatzen sein Brot stibitzt. Ein paar Mal waren auch Rebhühner im Hof. Eins war so schwach vor Hunger und Kälte, daß es nicht mehr über den Zaun fliegen konnte. Es kuschelte sich in eine Ecke und ließ sich ruhig fangen. Ich nahm es für eine Stunde nach oben in die Zelle. Es saß auf meinem Bett und guckte mit sanften Augen.
Als ich es wieder auf den Hof tat, flog es erholt mit surrendem Prrrrrr-Laut davon.