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Ernst Toller (*1. Dezember 1893 in Samotschin, Provinz Posen; gestorben am 22. Mai 1939 in New York City, New York) war ein deutscher Schriftsteller, Politiker und linkssozialistischer Revolutionär.

#261 Brief an B.

Datierung 1922-??-??
Absendeort Niederschönenfeld, Deutschland
Verfasser Toller, Ernst
Beschreibung

Brief

Provenienz Original nicht ermittelt.
Briefkopf -
Publikationsort D1: Ein Glas Bier. In: Arbeiter-Zeitung. Wien, Nr. 43 vom 13.2.1927.
D2: Ein Glas Bier. In: Die literarische Welt, 3 (1927), Nr. 12 vom 25.3., S. 5.
D3: Ein Glas Bier. In: Vorwärts. Berlin, Nr. 162 vom 6.4.1927.
D4: Briefe aus dem Gefängnis (TW, Bd. 3, S. 359–362).

Von den erhaltenen Textzeugen ist nur D4 in Briefform gehalten und wird deshalb als Druckvorlage herangezogen.
Personen B.
B.
Toller, Ernst

An B.

Was wissen wir simplen Menschen von einer Tat und ihren Gründen. Wir neigen eher dazu, vor dem Warum uns schweigend zu bescheiden, daß ein Baum aus vielen Wurzeln Blut zum Herzen stößt, und daß es kindlich wäre, zu meinen, die sichtbaren gäben ihm Trieb und Kraft.

Ich habe hier einen Freund, Gefangener wie ich, mir lieber als mein Bruder, von zartem Gefühl und schwingenden Nerven. Als Neunzehnjähriger erstach er einen Menschen, und das Zuchthaus sargte ihn sieben Frühlinge, sieben Sommer, sieben Herbste, sieben Winter ein.

Wie das zuging, erzählte er mir eines Abends in meiner Zelle: An einem Sonntag lud er sein Mädchen ein zum Spaziergang in den Münchner Englischen Garten. Auf dem Monopteros waren sie gestanden, hatten über den komischen Namen gelacht und sich über den Frühling gefreut, hatten sich verstohlen in den Arm gezwickt und vor aller Augen geküßt, dann waren sie in eine Wirtschaft eingekehrt, hatten jeder eine Maß Bier bestellt, und da saßen sie nun, in den Knien süße Wärme. Ihrem Tisch gegenüber zechten drei Burschen, meinem Freund vom Bauplatz her bekannt, gelernte Maurer, stolz auf ihr Handwerk und den Tagelöhner von oben herab behandelnd.

Mein Freund ging für ein paar Minuten in den Waschraum, drehte die Krawatte zurecht, gab der sonntäglich pomadisierten Tolle den rechten Schwung. Als er zurückkehrte, weinte sein Mädchen, und auf seine bestürzte Frage stotterte sie, daß die drei gegenüber sie „Flitscherl“ genannt hätten und gefragt, ob sies für fünfzig Pfennig tue.

„Ihr Saukerle“ sprang mein Freund die dreie an, die gebläht von Übermacht spöttisch grinsten, „ihr ganz gemeinen Schufte,“ und was sonst der bayrische Mann aus dem Volk zu sagen weiß, wenn man sein treuestes Empfinden verwundet. Die drei flogen auf, griffen hart nach ihren Stühlen, mein Freund packte sein Messer, und es hätte sich die an Sonntagen in Bayern übliche Rauferei entwickelt, wenn nicht der eine der Angreifer vom ersten Messerstich tödlich getroffen, lautlos zu Boden geplumpst und starr liegen geblieben wäre. Jäher Wirbel von Bestürzung, Schreck, Angst, fegte Wirte und Gäste aus dem Lokal auf die Straße bis auf meinen Freund und – doch davon später.

Mein Freund sah sich allein, vor ihm lag der Tote, in dessen Brust stak ein Messer, und dieses Messer war seins.

„Weißt, ich habs erst garnicht begriffen. Nur Durst verspürte ich, mächtigen Durst. Eine Maß! wollte ich rufen, aber da niemand hinterm Schanktisch stand, ging ich selber hin, schenkte mir den Krug ein, trank ihn auf einen Satz herunter, und es war mir wohler. Einen Moment wenigstens, dann wurde mir klar, was geschehen war, ich rannte aus der Wirtschaft heraus, rannte durch die Straßen bis zum Abend. Es begann zu regnen, von meinem Kopf tropfte Nässe, ich merkte, ich habe gar keinen Hut auf, wo hab ich nur den Hut gelassen, wo hab ich nur den Hut gelassen, es fiel mir ein, er mußte wohl noch in der Wirtschaft liegen, es trieb mich dahin, ich dachte an nichts anderes als, du mußt deinen Hut wiederbekommen, ich hatte ihn vom letzten Wochenlohn gekauft, sündhaft, ihn mir nichts dir nichts zu verschludern. Vor der Tür der Wirtschaft standen zwei Kriminale, die sprangen auf mich zu, fesselten mich und brachten mich zur Polizei. Am nächsten Tag mußte ich zuschauen, in der Anatomie, wie sie die Leiche sezierten, es stank so, mir wurde ganz übel, ich guckte weg, da meinte der Doktor: ‚Schauen Sie nur Ihr armes Opfer an, Herr Mörder.‘ Na und dann kam ich vor Gericht und das andere kennst du ja.“

Am Tage der Gerichtsverhandlung merkte man, der Staatsanwalt hütet in den bauschigen Falten seines Talars ein Geheimnis, das, wenn die Zeit reif, es entschlüpfen zu lassen, ihm von Vorgesetzten, Kollegen und Presse beachteten Triumph eintragen mußte und dem Angeklagten langjährige Zuchthausstrafe. Kurz vor Schluß der Beweisaufnahme meldete er sich: „Es hat sich eine Zeugin gemeldet.“ Das Gericht beschloß, die Zeugin zu vernehmen.

Es erschien ein hinkendes Weiblein, das weitschweifig angab, wie es an dem bewußten Sonntag die Base besucht und auf dem Heimwege Lust verspürt hätte, ausnahmsweise und in Erinnerung an ihren Seligen, dessen Namenstag sie immer auf diese Weise feiere, eine Maß Dunkles zu trinken. Nachher seien plötzlich alle davongerannt, sie habe nicht begriffen, warum, sie habe sich bekreuzigt und sei dann rasch unter den Tisch gekrochen. Erst sei nichts geschehen, dann habe sie den armen Toten gesehen, und vor ihm stand der Mörder, ohne Reue, er habe sich den Ermordeten eine Weile angesehen und sei dann zum Schenktisch hingelaufen, habe sich die Maß eingeschenkt, und wie er sich nachher mit der Zunge den Schaum aus den Mundwinkeln schleckte, da habs ihr einen Stich ins Herz gegeben, was für ein Mensch müsse das sein, und sie bitte das Gericht um Entschuldigung, daß sie sich erst heute melde, sie hätte schon von Kindheit an solche Angst vorm Schwören.

„Zeugin, Sie haben mir den Vorgang des Biereinschenkens noch ausführlicher geschildert,“ mahnte mit honiger Stimme der Staatsanwalt.

„Ja, wie er sich die Maß eingeschenkt hatte, nahm er die Kelle, strich den Schaum aus dem Glas, öffnete den Bierhahn nochmals und ließ den Krug vollaufen.“

„Hat sich das so verhalten, Angeklagter?“ fragte der Vorsitzende. „Ja.“

„Was haben Sie sich dabei gedacht? Wie erklären Sie sich den Vorgang mit Kelle und Schaum?“

„Das weiß ich nicht mehr. Aber man ist es doch so gewohnt. Die Wirte betrügen einen immer. Ich hab dem Verein angehört gegen schlechtes Einschenken. Ich hab halt immer darauf geachtet und nachher, wie ich mir allein einschenkte, tat ichs, weils so sein mußte, aus Gewohnheit. Ich hab mir nichts dabei gedacht.“

Der Staatsanwalt erhob sich zu seiner Anklagerede, die von der Presse als Meisterstück forensischer Kunst bezeichnet wurde, ausladend und dennoch klar, „innen Filigran und außen massiger Guß“.

Die Szene am Schenktisch, sie erhob er zum Kernstück seiner Meisterrede, zur „schillernden Seele“, wie die Nachrichten schrieben. „Meine Herren Richter, niemals in meiner langjährigen Praxis ist mir ein Fall begegnet, in dem sich so eindeutig Charakter und Gesinnung des Angeklagten dem Lichte der Öffentlichkeit darbieten. Nicht genug, daß er Bier trinkt, in Gegenwart des Opfers, in kalter Berechnung konstatiert er, um, wie er selbst angab, die Prinzipien seines Vereins gegen schlechtes Einschenken zu wahren, die Maß enthalte zuviel Schaum.“

Und nachdem der Staatsanwalt das Juristische des Falles in blitzender Dialektik entwirrte, beantragte er Versagung mildernder Umstände.

Das Gericht konnte sich, schrieb die Presse, den Ausführungen des öffentlichen Anklägers nicht verschließen, und die Zuhörer nahmen den Urteilsspruch mit sichtlicher Genugtuung auf.