Ernst Müller-Meiningen (* 11. August 1866 in Mühlhof bei Schwabach; † 1. Juni 1944 in München) war bayerischer Justizminister, Senatspräsident am Bayerischen Obersten Landesgericht und Reichstagsabgeordneter.
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Erich Kurt Mühsam (6. April 1878 in Berlin – 10. Juli 1934 im KZ Oranienburg) war ein anarchistischer deutscher Schriftsteller, Publizist und Antimilitarist. Am 10. Juli 1934 von der SS-Wachmannschaft des KZ Oranienburg ermordet.
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#260 Brief an B.
Datierung | *1922-??-?? |
Absendeort | Niederschönenfeld, Deutschland |
Verfasser | Toller, Ernst |
Beschreibung | Brief |
Provenienz | Original nicht ermittelt. |
Briefkopf | - |
Publikationsort | D1: Niederschönenfeld stürzt Bayern. In: Justiz-Erlebnisse (TW, Bd. 3, S. 74–76). D2: Briefe aus dem Gefängnis (TW, Bd. 3, S. 355–357). Als Druckvorlage wird D2 herangezogen, da D1 nicht in Briefform veröffentlicht ist. |
Personen |
B.
Müller-Meiningen, Ernst Mühsam, Erich B. Toller, Ernst |
Beschlagnahmter Brief
An B.
Die deutschen Zeitungen brachten folgende Nachricht:
„Berlin. Die hiesige bayrische Gesandtschaft teilt mit: In der letzten Zeit haben sich Anhaltspunkte dafür ergeben, daß in der Gefangenenanstalt Niederschönenfeld zum Sturz der Regierung und Einführung der Räterepublik ein anscheinend weitverzweigtes, hochverräterisches Komplott angezettelt worden ist. Das in allen Einzelheiten festgelegte hochverräterische Unternehmen sollte nach Entwaffnung der Einwohnerwehren ins Werk gesetzt werden. Eine Durchsuchung bei den Gefangenen hat diesen Verdacht bestätigt.“
Niemand wird diese Meldung lesen, ohne den Kopf zu schütteln. Die Meldung barg einen durchsichtigen Zweck. Der Justizminister Müller-Meiningen wollte, Retter des Vaterlandes, die bayrischen Einwohnerwehren vor dem Zugriff der Entente retten. Man verhandelte in San Remo über die Abrüstung Deutschlands und brauchte Fakten. Im Ausland wird man kaum an die Überzeugungskraft jenes „Faktums“ geglaubt haben. Die deutsche öffentliche Meinung, die bürgerliche Presse, nahm, mit geringen Ausnahmen, kritiklos die Meldung hin. Ich erinnere mich an eine Notiz einer Berliner Zeitung, die ungefähr die fettgesperrte Überschrift trug: „Neue Putschversuche Mühsams und Tollers“.
Wie man in einem Gefängnis, das von Mauern umgeben, von Stacheldrahtverhauen und spanischen Reitern umwehrt, mit Kanonen und Maschinengewehren gespickt, von vielfachen Postenketten zerniert war, ein „weitverzweigtes Komplott“ anzetteln kann, darüber mag wohl kein Leser nachgedacht haben. Aber es ist in unserer Zeit nicht Aufgabe des Lesers, nachzudenken.
Den Niederschönenfelder Gefangenen war die Angelegenheit nicht lächerlich. Morgens um 6 Uhr drang ein Haufen Aufseher (man hatte zur Verstärkung Zuchthauswächter herangezogen) in die Zellen, trieb uns aus den Betten, ließ uns nicht Zeit zum Anziehen, jagte uns mit rohen Griffen und Worten in die vollkommen leeren Zellen des Seitenflurs. Diese Zellen waren ungefähr 1 Meter breit, einst hatten sie „jugendlichen Verbrechern“ von 14–18 Jahren zum Aufenthalt gedient, heute dienen sie wieder gleichen Zwecken.
Noch in der Zellentür wurden wir von den fremden Aufsehern beschimpft. An meine Zellentür trat ein Zuchthauswächter, schob die Klappe des Guckloches fort und rief: „Da ist das rote Schwein.“
Aus den alten Zellen nahm man sämtliche Utensilien der Gefangenen fort und durchsuchte sie peinlich. Zugeschlossene Koffer wurden aufgebrochen, weil man sich nicht die Mühe nahm, den Gefangenen zu fragen, welcher der vorhandenen Schlüssel das Kofferloch öffnete.
Bei der Durchsuchung verschwanden etliche Gegenstände und kamen später nicht wieder zum Vorschein.
Keiner der Gefangenen kannte die Gründe des Überfalls. Vierzehn Tage strengster Einzelhaft vergingen. Nicht einmal eine Stunde frischer Luft durften die Gefangenen atmen. Der Hofspaziergang war aufgehoben. Nachrichten von draußen drangen nicht herein. Tageszeitungen bekamen die Gefangenen nicht eingehändigt. Auf dem Wege übers Ausland erfuhren sie, warum man sie wie gefährlichste Banditen behandelte. Damals war es mir gestattet, eine französische Zeitschrift zu lesen. (Später kam das Verbot aller „fremdsprachlichen“ Zeitungen, Zeitschriften und Bücher). In dieser entdeckte ich die Überschrift der amtlichen Meldung, die dem Zensor entgangen war. Als ich sie durch das Gitterfenster den andern zurief, dröhnte der Bau vom Gelächter, und aus dem Gelächter quirlte der Gesang auf: „Der Staat ist in Gefahr, der Staat ist in Gefahr!“
Nach vierzehn Tagen durften die Gefangenen täglich eine Stunde auf den Spazierhof gehen. Bei einer Reihe von Gefangenen wurde die Einzelhaft wegen „neuer Vorbereitungen zum Hochverrat“ in Untersuchungshaft umgewandelt. Den Untersuchungshaftgefangenen erging es besonders schlecht. An ihnen kühlten die Aufseher ihr Mütchen, die nur widerwillig gewisse Formen, die bei Festungsgefangenen schließlich doch nicht zu umgehen sind, beachtet hatten. Monate dauerte die Untersuchungshaft der Gefangenen. Ein eigens von Müller-Meiningen zusammengesetzter Gerichtshof war in Neuburg bestimmt worden, der die Hochverräter aburteilen sollte. Besondere Richter wurden zu diesem Zweck von München nach Neuburg versetzt.
Die grenzenloser Willkür preisgegebenen Gefangenen beschlossen nach zwei Monaten in den Hungerstreik zu treten. Fünf Tage dauerte der Hungerstreik. Am fünften Tage bekamen vier Gefangene, durch unzulängliche Nahrung vorher geschwächt und zerrüttet, Krämpfe. Man rief den Arzt herbei, der zufällig nicht der amtierende, sondern „Zivilstellvertreter“ war. Der Arzt lehnte die Verantwortung für das Leben der Gefangenen ab, und nun entschloß sich der Staatsanwalt, den Haftbefehl aufzuheben, obwohl am gleichen Tage, ein paar Stunden vorher, ein Gefangener die Mitteilung bekommen hatte, daß seine Haftbeschwerde wegen Verdunkelungsgefahr abgelehnt sei.
Die Worte „Aufhebung des Haftbefehls“ werden Sie erstaunen. Alle Beteiligten befanden sich ja bereits in Haft. Aber in der Untersuchungshaft konnten den Gefangenen die letzten Rechte der Festungshaft genommen werden. Darum der neue „Haftbefehl“.
Die Gefangenen wurden aus der Haft der Untersuchung nicht in die Freiheit, sondern wieder in die Haft der Festung geführt.
Später wurde das Verfahren sang- und klanglos eingestellt.