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Nettie Sutro-Katzenstein (* 1. November 1889 in München; † 21. September 1967 in Zürich) war eine Schweizer Historikerin und Flüchtlingshelferin.

Ernst Toller (*1. Dezember 1893 in Samotschin, Provinz Posen; gestorben am 22. Mai 1939 in New York City, New York) war ein deutscher Schriftsteller, Politiker und linkssozialistischer Revolutionär.

Nettie Sutro-Katzenstein (* 1. November 1889 in München; † 21. September 1967 in Zürich) war eine Schweizer Historikerin und Flüchtlingshelferin.

#221 Brief an Nettie Katzenstein

Datierung 1922-07-02
Absendeort Niederschönenfeld, Deutschland
Verfasser Toller, Ernst
Beschreibung

Brief

Provenienz Original nicht ermittelt.
Briefkopf -
Publikationsort Briefe aus dem Gefängnis (TW, Bd. 3, S. 358).
Personen Katzenstein, Nettie
Toller, Ernst
Katzenstein, Nettie

Beschlagnahmter Brief

2.7.1922

An Tessa.

Schnell noch einen Gruß. Ich bin sehr müde. Ein Tag voller Erregungen.

Elf Genossen, die sich wegen der berühmten Niederschönenfelder „Verschwörung“ – Du erinnerst Dich wohl an die Zeitungsnotiz in den Tagen der Konferenz von San Remo – in Untersuchungshaft befanden, waren in Hungerstreik getreten. Heute der fünfte Tag. Vom Fenster aus konnten wir den Hof erblicken, wo sie spazieren geführt wurden. Ein jammervolles Bild. Einer lag an der Mauer, eingefallenes Gesicht, glänzende, irr stierende Augen, neben sich den Wassereimer, aus dem er Wasser sog. Ein anderer schwankte, hielt sich aber tapfer aufrecht. Plötzlich bricht er zusammen, weint, schreit: Herzkrämpfe. Andere liegen auf der Erde, kraftlos, gleichgiltig, glasigen Blicks.

Ich kenne Hunger. Du weißt, daß ich damals im Januar 1918 nach dem Streik als Protest gegen die gewaltsame „Einkleidung“ im Militärgefängnis vier Tage hungerte.

Die Nachmittagsstunden vergingen. Drunten die hungernden Kameraden in den Zellen. Was wird? Läßt man sie zugrunde gehen? Da, abends, ein Schrei. Aus dem Zellenfenster unten hallt es. „Wir werden freigelassen!“

Wahrscheinlich hatte der Arzt die Verantwortung abgelehnt und so entließ man sie, die schon zehn Wochen in kleinen Zellenlöchern bei schlechtester Gefängniskost gemartert, zurück in die „Festung“. Es war bisher abgelehnt worden, weil „Verdunkelungsgefahr“ bestünde.

Voll Freude empfingen wir sie.

Erste Nahrungsaufnahme – Erbrechen – Ohnmachtsanfälle. Aber nun sind sie überm Berg und aufrecht wieder.