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Kurt Tucholsky (* 9. Januar 1890 in Berlin; † 21. Dezember 1935 in Göteborg) war ein deutscher Journalist und Schriftsteller.

Kurt Tucholsky (* 9. Januar 1890 in Berlin; † 21. Dezember 1935 in Göteborg) war ein deutscher Journalist und Schriftsteller.

Ernst Toller (*1. Dezember 1893 in Samotschin, Provinz Posen; gestorben am 22. Mai 1939 in New York City, New York) war ein deutscher Schriftsteller, Politiker und linkssozialistischer Revolutionär.

#217 Brief an Kurt Tucholsky

Datierung 1922-06-15
Absendeort Niederschönenfeld, Deutschland
Verfasser Toller, Ernst
Beschreibung

Brief, 2 S., M

Provenienz DLA Marbach, Bestand A:Tucholsky, Zugangsnr. 86.2224/4
Briefkopf -
Personen Tucholsky, Kurt
Reutershan, Walburga
Tucholsky, Kurt
Toller, Ernst
Institutionen Festungshaftanstalt Niederschönenfeld

Lieber Herr Doktor Tucholsky,

Sie haben vollkommen recht, Sie sind mir zuvorgekommen, ich selbst trug mich mit der Absicht, Ihnen zu unterbreiten, was Sie mir vorschlugen. Man macht vielzuviel Aufhebens von denen, die „Namen“ haben, die andern sind vergessen.

Ich schrieb heute an meine Mutter:

„Die Frau eines mit mir inhaftierten Genossen, Mutter von vier Kindern, die sie durch Arbeit in einer Fabrik ernähren muß, hat eine schwere Unterleibsoperation durchgemacht. Eine solche Frau hätte auf ‚natürliche Weise‘ nie die Mittel, etwas für ihre Genesung zu tun, sie muß weiter – ob gesund oder nicht gesund, danach fragt keiner! – schuften und schuften. Wer kümmert sich um sie. Man kümmert sich um die, die ‚einen Namen‘ haben, die Namenlosen gehen zugrunde. – Laß mich offen sprechen: Du hast einige Mittel, jene Frau hat nichts und ist froh, wenn ihr Mann sich Brot abspart und es ihr schickt.

Ich kenne Dich viel zu gut, als daß ich nicht wüßte, es würde Dir Schmerz bereiten, müßte die Arme zurückstehen. Ich schreibe darum heute an Dr. T. und bitte ihn, sie statt Deiner vorzuschlagen. Wird der Vorschlag angenommen, freust Du Dich mit mir, liebe Mutter.“ –

– Die Frau heißt Walburga Reutershan. Wohnt in München, Hippmannstr. 9 I l. Ist 28 Jahre. Die Operation fand vor einigen Monaten statt. Nach der Operation bekam die Genossin Bauchgrippe, von der sie sich nur langsam erholte. Daß sie arg unterernährt ist, brauche ich wohl nicht eigens zu sagen. (Mastkuren mit Schlagrahm und Kaviarhäppchen sind „nach ewigen Naturgesetzen“ nicht für Proletenfrauen bestimmt worden). Ihr Mann ist seit einem Jahr in Haft, ein treuer, aufrechter Kamerad. (Die Kinder würde eine Schwester für die Zeit aufnehmen). Wenn mein unbekannter Freund mir (und nicht nur mir) eine große und innige Freude machen will, dann bitte ich ihn, Frau Reutershan in das Sanatorium seiner Schwester für einige Wochen einzuladen. Ich bitte Sie, sich – gegebenenfalls – unmittelbar an Frau R. zu wenden.

Schreiben Sie mir bald,

die herzlichsten Grüße

Ihres Ernst Toller.

Fest. Niederschönenfeld, 15. Juni 22.