Weitere Briefe
1,665 Briefe gefunden

Nettie Sutro-Katzenstein (* 1. November 1889 in München; † 21. September 1967 in Zürich) war eine Schweizer Historikerin und Flüchtlingshelferin.

Fjodor Michailowitsch Dostojewski (auch Dostojewskij, Фёдор Михайлович Достоевский?/i [ˈfʲodər mʲɪˈxajləvʲɪtɕ dəstʌˈjɛfskʲɪj], wissenschaftliche Transliteration Fëdor Mihajlovič Dostoevskij; * 11. November 1821 in Moskau; † 9. Februar 1881 in Sankt Petersburg) gilt als einer der bedeutendsten russischen Schriftsteller.

Erich Kurt Mühsam (6. April 1878 in Berlin – 10. Juli 1934 im KZ Oranienburg) war ein anarchistischer deutscher Schriftsteller, Publizist und Antimilitarist. Am 10. Juli 1934 von der SS-Wachmannschaft des KZ Oranienburg ermordet.

Ernst Toller (*1. Dezember 1893 in Samotschin, Provinz Posen; gestorben am 22. Mai 1939 in New York City, New York) war ein deutscher Schriftsteller, Politiker und linkssozialistischer Revolutionär.

Nettie Sutro-Katzenstein (* 1. November 1889 in München; † 21. September 1967 in Zürich) war eine Schweizer Historikerin und Flüchtlingshelferin.

#208 Brief an Nettie Katzenstein

Datierung 1922-04-28
Absendeort Niederschönenfeld, Deutschland
Verfasser Toller, Ernst
Beschreibung

Brief

Provenienz Original nicht ermittelt.
Briefkopf -
Publikationsort Briefe aus dem Gefängnis (TW, Bd. 3, S. 343f.).
Poststelle -
Personen Katzenstein, Nettie
Dostojewski, Fjodor
Mühsam, Erich
Toller, Ernst
Katzenstein, Nettie
Werke Masse Mensch

27.4.1922

An Tessa.

Du darfst nicht glauben, Liebe, daß ich schwach bin, mich von der Haft unterbekommen lasse, ich weiß nicht einmal, ob ich wirklich blaß geworden bin in diesen Jahren. Wissender vielleicht, also skeptischer. Ob Erkenntnisse des Geistes Vitalität zermürben, ist noch eine Frage. Vielleicht würdest Du erschrecken, ob der Spannkraft, wenn wir zusammen wandern könnten. Wohl bin ich manchmal müde, und das macht die Haft, die Zwangsgemeinschaft. Dostojewsky schreibt in den „Memoiren aus dem Totenhaus“, die ich Dir zu lesen rate: „Es gibt im Sträflingsleben eine Qual, die fast schlimmer ist als alle anderen. Es ist das zwangsweise Zusammenleben.“

Seit etwa sieben Wochen scheint hier kaum mehr die Sonne, der graue Himmel drückt wie die Zelle, und wenn ich auf den Hof hinausgehe, habe ich nicht mehr das Gefühl, das vergitterte Haus verlassen zu haben. Wie ich mich da nach dem Tessiner Frühling, der Tessiner Sonne bange. Wenn ich dort unten wäre, ich glaube, ich täte wie Du, ich läse kein Buch, ich blinzelte in die Sonne und wäre reich im Gefühl, „die Erde unter mir und den Himmel über mir zu haben.“

Eines Tages kam ein Strauß Blumen: Mimosen, Kamelien, Narzissen. Ich saß Stunden wunschlos vor den Blumen und lauschte ihrer Musik. Kennst Du das, daß Blumenfarben sein können wie Musik, daß Schauen Hören wird, und Duft Bild? Ganz stark dufteten die Narzissen, ich war trunken – und dann auf einmal habe ich sie zerstört.

Froh bin ich über zwei gleichlautende Nachrichten, die ich nach Aufführungen von „Masse Mensch“ aus Nürnberg und aus Berlin bekommen habe: es würden in Parteiversammlungen, in Arbeiterkneipen usw. die Probleme, die in „Masse Mensch“ berührt werden, leidenschaftlich und eifrig diskutiert. Diese Wirkungen über den Abend hinaus, diese ernsthafte Teilnahme der Arbeiter sagen mir mehr als Kritiken.

Meine Mutter sorgt sich um mich. Es ist merkwürdig. Meinem Leben stand sie fremd gegenüber. Daß sie meine Ideen nicht teilte, tat mir weh. Ich glaube, ich ließ sie es fühlen. Nun merke ich, wie unwesentlich für sie jener Weg ist, den sie nicht begreift. Sie liebt mich.

28.4.

Über Nacht ist es Frühling geworden. Sonne … blauer Himmel … unendliche Weite.

Ich befinde mich jetzt im 2. Stockwerk, im gleichen Gang wie Mühsam.

Nun erst merke ich, wie ich verlernt habe, mit Menschen zusammenzusein. Ich habe alle Einsiedler-Tugenden und -Untugenden erworben, und ich glaube nicht, daß ich sie je wieder verlieren werde.