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Stefan Zweig (* 28. November 1881 in Wien; † 23. Februar 1942 in Petrópolis, Bundesstaat Rio de Janeiro, Brasilien) war ein österreichischer Schriftsteller.

Romain Rolland (* 29. Januar 1866 in Clamecy, Département Nièvre; † 30. Dezember 1944 in Vézelay, Burgund) war ein französischer Schriftsteller, Musikkritiker und Pazifist.

Ernst Toller (*1. Dezember 1893 in Samotschin, Provinz Posen; gestorben am 22. Mai 1939 in New York City, New York) war ein deutscher Schriftsteller, Politiker und linkssozialistischer Revolutionär.

Stefan Zweig (* 28. November 1881 in Wien; † 23. Februar 1942 in Petrópolis, Bundesstaat Rio de Janeiro, Brasilien) war ein österreichischer Schriftsteller.

#200 Brief an Stefan Zweig

Datierung *1922-02-??
Absendeort Niederschönenfeld, Deutschland
Verfasser Toller, Ernst
Beschreibung

Brief

Provenienz Original nicht ermittelt.
Briefkopf -
Publikationsort Briefe aus dem Gefängnis (TW, Bd. 3, S. 312).

Der Brief ist in Briefe aus dem Gefängnis undatiert dem Abschnitt „1921“ zugeordnet, der Verweis auf den Brief an E. P. Tal ermöglicht allerdings die korrekte Datierung auf Ende Februar 1922.
Poststelle -
Personen Zweig, Stefan
Tal, Ernst Peter
Rolland, Romain
Toller, Ernst
Zweig, Stefan

An Stefan Zweig.

Nein, es ist nicht verwegen, aus sorgloser Freiheit einem Gefangenen sein Schicksal zu loben – wenn der Lobende die innere Vollendung des Gefangenen will. Denn nur einem Menschen, dem man die seelische Kraft zutraut, in der Gefangenschaft zu reifen, sagt man solche Worte. Und ich glaube, mir ist die Kraft gewachsen. Erst in den letzten Tagen schrieb ich Herrn Tal, der, wie er mir mitteilte, mich mit Hilfe geistiger Männer Deutschlands freibekommen will, daß ich, obschon von seiner Anteilnahme herzlich berührt, ihn bitten muß, von seinem Plan Abstand zu nehmen. Tal fürchtet dauernden Schaden für meine Schaffenskraft – ich mußte lächeln. Wir leben in einer Zeit, da so viele Könneriche und Leisteriche herumlaufen, denen jede tiefe Notwendigkeit fehlt, die „so“ können und „so“ können. Es ist an der Zeit, daß Menschen aus freiem Willen, aus notwendiger Hingabe den Mut finden, die Idee zu leben, der sie gehören. Daß sie das Wesentliche solchen Seins einsehen. Daß sie aufhören zu meinen, der Sinn des Lebens liege in der Gestaltung von Bildern des Lebens.

Mein Schicksal drückt mich selten, da ich es will – immer gewollt habe – und ich glaube vor der Gefahr gefeit zu sein, voller Erbitterung und Ressentiment das verschlossene Haus zu verlassen. (Daß ich zu jenen gehören werde, die unerbittlich gegen Schändung von Menschenantlitz – die keiner draußen ahnt in ganzer Furchtbarkeit – kämpfen, werden Sie begreifen. Zu wenige fühlen sich verantwortlich, nur darum ist solches möglich. Doch darüber läßt sich jetzt nicht sprechen.)

Sie sagen von Romain Rolland, daß er „die Menschheit liebt, weil er mehr Mitleid für sie hat als Glauben an sie“. Vielleicht ist diese Liebe die einzig beharrliche und unverbitterte. Wird der Glaube oft enttäuscht, und er muß enttäuscht werden, wandelt er sich in Feindschaft, Verbitterung, Menschheitshaß. Ich könnte mir Kämpfer denken, für die Glaube an die Menschheit oder Nichtglaube keine Frage entscheidender Bedeutung ist, die kämpfen, weil sie die Kraft zur Idee, zur Mitarbeit an bewußter gesellschaftlicher Selbstgestaltung haben.

Fortschreiten in bewußter gesellschaftlicher Selbstgestaltung (die ökonomisch wichtigste Seite des Sozialismus) bedeutet die Überwindung sozialer Unordnung durch gesellschaftbauende Kräfte. Damit wird das „Geheimnisvolle“, das „Irrationale“ des Lebens nicht, wie selbst manche dogmatische Sozialisten glauben, vollkommen rationalisiert, sondern es wird „beschränkt“, es weicht zurück – und bleibt da in seiner ganzen Unfaßbarkeit.

Wird jener Kämpfertyp, ein heroischer Kämpfertyp, nicht Schicksal europäischer Menschen sein?