#185 Brief an St.
Datierung | 1921-??-?? |
Absendeort | Niederschönenfeld, Deutschland |
Verfasser | Toller, Ernst |
Beschreibung | Brief |
Provenienz | Original nicht ermittelt. |
Briefkopf | - |
Publikationsort | Briefe aus dem Gefängnis (TW, Bd. 3, S. 321). |
Poststelle | - |
Personen |
St.
St. Toller, Ernst |
An St.
Am 6. Juni jährte sich zum zweitenmal der Tag, an dem ich verhaftet wurde, und trotz des Landtagsmandats werde ich noch einige Jahre hier „verbüßen“ müssen. Unfrei? Nur der ists, der der Sache nicht mit jener unbedingten Hingabe dient, die selbst Wochen der Skepsis, Wochen des Zweifels als notwendiges Opfer empfinden läßt.
Ich begreife nur zu gut Ihre zornigen Fragen nach jenen „Geistigen“, die aus Erkenntnis der Vernunft und des Herzens in unseren vordersten Reihen kämpfen sollten. Mit Bitterkeit denke ich daran, wie in den Tagen scheinbaren Erfolgs sich diese Helden in den Vorzimmern buckelten, und sich als Wahlproletarier radikalsten Geblüts nicht laut genug „zur Verfügung“ anpriesen. Es gibt keine Phalanx der geistigen Arbeiter in Deutschland. 1848 mag es sie gegeben haben. Im wilhelminischen Zeitalter depravierten sie. Man muß sich damit abfinden und Charakterstärke, Mut, Verantwortlichkeitsgefühl bei jungen, nicht kriegsverseuchten Proletariern suchen.