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Constantin Fehrenbach (häufig auch fälschlich: Konstantin Fehrenbach, * 11. Januar 1852 in Wellendingen bei Bonndorf (Baden); † 26. März 1926 in Freiburg im Breisgau) war ein deutscher Politiker (Zentrum) und vom 25. Juni 1920 bis zum 4. Mai 1921 Reichskanzler der Weimarer Republik.

Warren Gamaliel Harding (* 2. November 1865 in Corsica, heute Blooming Grove, Morrow County, Ohio; † 2. August 1923 in San Francisco, Kalifornien) war ein US-amerikanischer Politiker und von 1921 bis 1923 der 29. Präsident der Vereinigten Staaten.

Ernst Toller (*1. Dezember 1893 in Samotschin, Provinz Posen; gestorben am 22. Mai 1939 in New York City, New York) war ein deutscher Schriftsteller, Politiker und linkssozialistischer Revolutionär.

#182 Brief an F. P.

Datierung 1921-??-??
Absendeort Niederschönenfeld, Deutschland
Verfasser Toller, Ernst
Beschreibung

Brief

Provenienz Original nicht ermittelt.
Briefkopf -
Publikationsort Briefe aus dem Gefängnis (TW, Bd. 3, S. 320f.).
Personen F. P.
Fehrenbach, Constantin
Harding, Warren G.
F. P.
Toller, Ernst

An F. P.

Der Weg, den wir in Deutschland gehen, ist ein anderer, als der im Jahre 1918 der Revolution inbrünstig erhoffte, von breiten Menschenmassen erträumte. Man kann die Schuldfrage aufwerfen, man kann unzählige Felder der Tagespolitik aufdecken, mir scheint diese Art der Betrachtung ebenso oberflächlich, wie die Betrachtungsweise all der Leute, die Kompendien darüber schreiben, wer in der so und so vielten Stunde des 30. Juli oder des 1. August 1914 den einen letzten „Anstoß“ zum Krieg gab.

Wohin treiben wir, und wohin treibt Europa? Was in Deutschland seit der Ausschaltung Deutschlands als weltpolitischem Subjekt sozial-wirtschaftlich, finanzpolitisch, kulturpolitisch zu erreichen wäre, wird unmöglich gemacht durch die katastrophale Zersplitterung der Arbeiterschaft, durch den Minuten-Opportunismus der Sozialdemokraten, die Blindheit der Extremisten, durch die Halsstarrigkeit der auf ihren Mammon und ihre Machtstellung pochenden Industrieherren und durch das Fehlen republikanisch-demokratischen Bürgertums.

Die Note des Reichskanzlers Fehrenbach an Harding, in der er jeder Selbstbestimmung Deutschlands entsagte, in der er förmlich anzunehmen schien, daß Amerika über den Interessensphären stünde, gleichsam die Göttin Justitia, die gnädig sich Deutschlands erbarmen würde, war der Bankrott bürgerlicher Außenpolitik. Als deutscher unabhängiger Sozialist habe ich mich über diese Note geschämt. Würdeloser hat noch kein Volk sich in seiner Niederlage gehalten.

Die Protestnoten der deutschen Regierung waren durch ihre Verlogenheit ebenfalls würdelos. Die deutsche Regierung müßte versuchen, die öffentliche Meinung Frankreichs und Englands durch Wahrhaftigkeit zu gewinnen. Indem sie eine Lüge nach der anderen in die Welt drahtet, erschüttert sie ihre Glaubwürdigkeit und erschwert den englischen und französischen Gegnern des Versailler Friedenspaktes den Kampf für Deutschlands Recht. Die historische Aufgabe der deutschen Regierung wäre die entschiedene Abkehr von der militaristischen Vergangenheit und das Bekenntnis zur Idee des Friedens in der Politik – und in allen kulturellen Institutionen des Staates. Dadurch würde sie eine moralische Stärke gewinnen, deren Folgen Europa und Deutschland spüren würde. Aber die zahllosen Proteste und die Tendenz, alle Sünden der Vergangenheit als deutsche Tugenden zu verteidigen, wecken nur den nationalistischen Taumel im Land und rufen die Gegner der Republik auf den Plan. Man wird sich wundern eines Tages, die Geister, die man rief, wird man nicht wieder los.

Auch für uns Linke ergeben sich Konsequenzen daraus, daß Deutschland nicht mehr Subjekt, sondern Objekt der Weltpolitik ist, also Politik nicht völlig nach eigenen Gesetzen treiben kann, sondern nach Gesetzen, die ein die unbedingte Übermacht besitzender fremder Staatskonzern ihm vorschreibt. Aber die Leute der Linken agieren wie Blinde. Sektierer, die sich unfähig zeigen, deutsche Arbeiterpolitik und deutsche Außenpolitik zu treiben. Wir müssen endlich die Phrase überwinden, daß der Weltkapitalismus durch den Krieg zertrümmert sei. Wer könnte heute noch behaupten, daß etwa in England von einem kapitalistischen Zusammenbruch mit Berechtigung gesprochen werden darf? Einzelne nationale Kapitalismen sind erschüttert, der Weltkapitalismus entwickelt sich zu höher konzentrierten, international straffer organisierten Formen. Der sozialistische Kampf ist ein Kampf auf lange Sicht.

Die englische Arbeiterschaft (die französische ist zu schwach) müßte für die deutschen Forderungen die gleiche intensive Anteilnahme aufbringen, wie für die Frage einer bewaffneten Intervention in Rußland. Vorbedingung einer so mächtigen Anteilnahme der englischen Arbeiterschaft wäre eine deutsche Arbeiterregierung. Doch es sieht in Deutschland nicht danach aus, daß wir eine Arbeiterregierung bekommen – alle Zeichen deuten auf eine militaristische Diktatur.

Ich sehe dieses Deutschland von 1921, ich sehe es trotz des Zerrspiegels der Zeitung. Ich habe manchmal das Gefühl, als ob ich aufschreien müßte wider diese Zeit, nur um mich von den lebendigen Nachtmahren zu befreien, die in ungeheuerlichem Gewimmel der Brutalität, der Haßorgien, der völligen Nichtachtung des Lebens, der Seelenlosigkeit mich umschwirren. Die Katastrophe scheint unaufhaltsam.