Stefan Großmann (* 18. Mai 1875 in Wien; † 3. Januar 1935 ebenda) war ein österreichischer Schriftsteller und Journalist. Er war Begründer und Herausgeber der politischen Wochenschrift Das Tage-Buch.
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Fridtjof Wedel-Jarlsberg Nansen (* 10. Oktober 1861 in Store Frøen bei Christiania (Oslo); † 13. Mai 1930 in Lysaker bei Oslo) war ein norwegischer Zoologe, Polarforscher, Diplomat und Friedensnobelpreisträger.
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Otto Neumann Knoph Sverdrup (* 31. Oktober 1854 in Bindal; † 26. November 1930 in Sandvika bei Oslo) war ein norwegischer Seefahrer und Polarforscher. Er war der Kapitän der Fram auf Fridtjof Nansens Nordpolexpedition.
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Giordano Bruno (* Januar 1548 in Nola; † 17. Februar 1600 in Rom; eigentlich Filippo Bruno) war ein italienischer Priester, Dichter, Philosoph und Astronom. Er wurde durch die Inquisition der Ketzerei und Magie für schuldig befunden und vom Gouverneur von Rom zum Tod auf dem Scheiterhaufen verurteilt.
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Ernst Toller (*1. Dezember 1893 in Samotschin, Provinz Posen; gestorben am 22. Mai 1939 in New York City, New York) war ein deutscher Schriftsteller, Politiker und linkssozialistischer Revolutionär.
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#180 Brief an Stefan Großmann
Datierung | zwischen 1921-10-22 und 1921-11-19 |
Absendeort | Niederschönenfeld, Deutschland |
Verfasser | Toller, Ernst |
Beschreibung | Brief |
Provenienz | Original nicht ermittelt. |
Briefkopf | - |
Publikationsort | D1: Brief aus der Festung. In: Das Tage-Buch, 2 (1921), Nr. 46 vom 19.11., S. 1397–1399. D2: Briefe aus dem Gefängnis (TW, Bd. 3, S. 329–331). Auch wenn es sich hier um einen offenen Brief handelt, der auf Öffentlichkeit abzielt, wurde der Brief aufgenommen um die Vollzähligkeit der Briefe aus dem Gefängnis zu wahren. Als Druckvorlage wurde D1 gewählt, da es sich vermutlich um die Fassung handelt, die näher am Originalbrief bleibt. |
Personen |
Großmann, Stefan
Nansen, Fridtjof Sverdrup, Otto Bruno, Giordano Toller, Ernst Großmann, Stefan |
Verehrter Herr Großmann, Sie haben mich in Ihrem „Tagebuch“ (Heft 21) angesprochen, und ich möchte Ihnen antworten.
Ich sehe nicht die „Damen in hingehauchten Roben“, nicht die „Herren im Frack, die im Auto durch die Stadt rasen, die ihre durch Dielen und Säle rauschenden Frauen und Freundinnen mit schillerndem Geschmeide behängen“, die sich „Villen im Grunewald bauen und nach Paris reisen“. Aber ich ahne auch sie.
Sehr deutlich (von ungeheuerlichen Nachtmähren bedrängt, die mich aus dem Schlafe jagen) sehe ich im magischen Dunkel der Zelle die „zwanzig und dreißig Millionen Menschen, die im Augenblick in Rußland vom Hunger bedroht sind“. Ich sehe die endlosen Züge der „Männer und Frauen und Kinder auf der Suche nach Nahrung durch ein leeres Land wandern“, sehe sie „zu tausenden im gefrorenen Schnee Rußlands umsinken“ ...
Und andere Bilder sehe ich:
Ich sehe in den Vereinigten Staaten „in Scheunen und Farmen den Weizen verfaulen“ (Fridtjof Nansens Rede: „30 Millionen verhungern“ in Heft 42 des Tage-Buch), sehe, wie man in Argentinien den Mais in Lokomotiven verfeuert, „weil das der einzige Weg ist, ihn zu verwenden“.
Der einzige Weg. Und in Rußland verhungern zwanzig bis dreißig Millionen Menschen. Der einzige Weg.
Plötzlich lache ich auf und dieses Lachen reißt sich von mir, es verdichtet sich zu einer Fratze, die mich anbleckt, und in der ich die Repräsentanten des heiligen „Völkerbundes“ in eins geronnen, erkenne.
Und diese Fratze beginnt zu sprechen.
„Fünf Millionen Pfund, Fritjof Nansen, verlangen Sie und geben vor, damit dem russischen Volk helfen zu können. Wir unterschätzen keineswegs Ihre redlichen Bemühungen, wir kennen Ihr fair play, wir glauben sogar, daß dem russischen Volk fünf Millionen Pfund Rettung brächten.
Aber ... verehrter Herr, bedenken Sie, für das doppelte, für zehn Millionen Pfund, können wir uns ein Schlachtschiff bauen! Ein Völkerbunds-Schlacht-Schiff! Ein Symbol gleichsam der hohen Ideen der Freiheit, der Demokratie, der Gerechtigkeit und der Selbstbestimmung aller Völker. Welche bedeutungsvollen Garantien böte ein solches Schlachtschiff für den Frieden! Zu ihm werden die großen und kleinen (samt und sonders befreiten) Völker in festlichen Zügen im Rhythmus jubelnden Herzschlages wallfahrten, die Anarchie, erschreckt, wird sich in ihre heimatliche Verbrecherspelunke verkriechen und nie mehr ihr unterirdisches Nest zu verlassen wagen, wie an einem rocher de bronze wird rebellische Gier nach jenem von psychopathischen Narren konstruierten ‚wahren Frieden der Völker‘ nach jenem ‚Europa der sozialen Gerechtigkeit‘ zerschellen. (Und zerschellt sie nicht, wird sie durch Mittel modernster Schlacht-Civilisation niederkartätscht, vergast, vergiftet, verbrannt.)
Was geht uns Sowjet-Rußland an? Es bezahlt nicht das dem Zaren geliehene, sauer ersessene, erschobene, erhandelte Geld unserer beunruhigt schwitzenden Rentner und Bankherren, es wagt unserer Autorität zu trotzen – mit einem Satz, es bezahlt nicht.
Sie rufen uns ‚im Namen der Menschheit‘ an, und der Ton, in dem Sie diese Worte sprechen, macht Sie (wir können es nicht verhehlen) ein wenig verdächtig. Wir wollen nicht behaupten, daß ein geheimes Einverständnis zwischen Ihnen und dem russischen Proletariat besteht, wir wollen nicht behaupten, daß Sie nach Sibirien Waffen für eine neue Revolution transportierten, daß Ihr Freund Sverdrup Leiter einer Revolte in weißgardistischer Provinz, nach andern Meldungen Leiter der Tscheka, war, aber ... wir kommen doch über die Tatsache nicht hinweg, daß auch die Revolutionäre, Sozialisten und Anarchisten (im gleichen Ton) vorgeben, im Namen der Menschheit zu sprechen.“ –.
Ich wollte Ihnen antworten. Ja, glauben Sie wirklich, daß sich die Welt von 1921 „unerschütterlich kapitalistisch“ herauskristallisiert hat? Sollen etwa die „wundervollen weißen Rücken“ der Damen „in hingehauchten Roben“ die kristalloiden Formen sein?
Ich lebe in einem von hohen Mauern umschlossenen, von Stacheldraht umzogenen Zellenbau. Glauben Sie deshalb, daß ich nicht erkenne, was draußen in Knäueln der Gier, des Seelenverfalls, der Verzweiflung sich wälzt?
Zu mir dringen die Geräusche der Welt, gedämpft, aber doch hörbar, ich sehe das Miteinander und Gegeneinander der Menschen, wie es in vielen deutschen, französischen, englischen Zeitungen und Zeitschriften (verzerrt oft, aber in seinen Linien erkennbar) sich spiegelt. Bücher lassen mich die Seele der Jahrhunderte schauen.
Daß der 7. Oktober 1921 in Deutschland eine „rosarote“ Totentanzkappe trägt, auch das sehe ich. Aber meine Augen verwundern sich deshalb nicht. Ich lebe nicht im Sumpf, doch ich stehe an seinen Borden.
Kennen Sie die Zeilen Giordano Brunos?
„Was eine Zeit gepflanzt, wird eine andre pflücken.
Und was die eine baut, reißt eine andre ein.“