Ernst Toller (*1. Dezember 1893 in Samotschin, Provinz Posen; gestorben am 22. Mai 1939 in New York City, New York) war ein deutscher Schriftsteller, Politiker und linkssozialistischer Revolutionär.
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#170 Brief an Hans Walter Wesemann
Datierung | 1921-11-26 |
Absendeort | Niederschönenfeld, Deutschland |
Verfasser | Toller, Ernst |
Beschreibung | Brief |
Provenienz | Original nicht ermittelt. |
Briefkopf | - |
Publikationsort | D1: Aus der Festung Niederschönenfeld. In: Vorwärts, Nr. 570 vom 3.12.1921. D2: Brief eines Kämpfers und Dichters. In: Der freie Arbeiter (Porto Alegre), 3 (1922), Nr. 7 vom 1.4., Beilage, S. 2. D3: Letters from Prison. London: The Bodley Head 1936, S. 154 (TW, Bd. 3, S. 695). |
Poststelle | - |
Personen |
Wesemann, Hans Walter
Toller, Ida Toller, Ernst Wesemann, Hans Walter |
Institutionen | Festungshaftanstalt Niederschönenfeld |
Sie werden inzwischen erfahren haben, daß mein Urlaubsgesuch (trotz der Kautionsanbietung meiner Mutter) nicht bewilligt wurde. Ich lebte in den Wochen vor der Entscheidung in einer gewissen Spannung. Sowie ich die Entscheidung „Eignet sich nicht zur Berücksichtigung“ vernahm, überkam mich eine große Ruhe. Wer wirklich Sozialist ist, der hat die seelische Kraft, die ihm auch in Zeiten der Haft, der Demütigung, der vollkommenen äußeren Unfreiheit eine wissende, ja eine heitere Gelassenheit gibt.
Ich würde mich ärmer machen als ich bin, wenn ich nicht sagte, daß auch die Haft reiche Stunden der Erfülltheit, des Lauschens nach innen, der Hingabe an die vielen winzigen Dinge kennt, deren Bedeutung, Bewegtheit, Schönheit so recht eigentlich erst vom Menschen mönchischen Lebens geahnt, erschaut, gefühlt werden. Man flattert zu viel draußen und ist blind, so liebt man zu wenig und nicht brüderlich, hingegeben genug. In der Zelle lernt der Mensch die beglückende Fülle seiner Liebesmöglichkeiten sehen. Wie unendlich hat mich hier schon eine weiße Hauswand beschenkt, deren sanft gerundete Konturen mich im Spiel immer neuer Lichter der Morgen, der Mittage, der Dämmerungen, der Abende beseligen.
Ich sehne mich nach Freiheit – wer sehnt sich darum nicht! Die Haft hemmt meine Schaffenskraft, aber sie hemmt sie nur! – Nicht mehr. Darum (mißverstehen Sie mich bitte nicht): Ich kann keine Hilfsbereitschaft annehmen, solange sie einzig mir gilt. Ich bin durchaus nicht der Ärmste der Gefangenen. Ich habe Stunden, in denen ich manche „freien“ Menschen draußen – bemitleide. Denken Sie an jene Beklagenswerten, deren tiefe Quellen eine unvernünftige und bösartige Gesellschaftsform, „Kultur“ genannt, versiegen ließ, deren Familie dem proletarischen Hungerschicksal verfallen.
Ich grüße Sie herzlich!
Ihr Ernst Toller .
Festung Niederschönenfeld, 26. November 1921.