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Jürgen Karl Geibel Fehling (* 1. März 1885 in Lübeck; † 14. Juni 1968 in Hamburg) war ein deutscher Theaterregisseur und Schauspieler.

Ernst Toller (*1. Dezember 1893 in Samotschin, Provinz Posen; gestorben am 22. Mai 1939 in New York City, New York) war ein deutscher Schriftsteller, Politiker und linkssozialistischer Revolutionär.

Jürgen Karl Geibel Fehling (* 1. März 1885 in Lübeck; † 14. Juni 1968 in Hamburg) war ein deutscher Theaterregisseur und Schauspieler.

#164 Brief an Jürgen Fehling

Datierung *1921-10-??
Absendeort *Niederschönenfeld, Deutschland
Verfasser Toller, Ernst
Beschreibung

Brief

Provenienz Original nicht ermittelt.
Briefkopf -
Publikationsort D1: Masse Mensch, 2. Auflage (TW, Bd. 1, S. 354f.).
D2: Briefe aus dem Gefängnis (TW, Bd. 3, S. 298f.).

Um die Vollzähligkeit der Briefe aus dem Gefängnis nicht zu verletzen, wurde der Brief trotz seines Öffentlichkeitscharakters aufgenommen. Darüber hinaus werden angesichts ihrer Verschiedenheit zum direkten Vergleich beide Textfassungen abgedruckt. Mit Blick auf die Form und den Publikationsrahmen kann davon ausgegangen werden, dass D2 näher am (nicht zu ermittelnden) Originalbrief bleibt – belegt werden kann dies aber nicht.
Personen Fehling, Jürgen
Toller, Ernst
Fehling, Jürgen
Werke Masse Mensch

D1:

Brief an einen schöpferischen Mittler

Es gibt Kritiker, die bemängeln, daß Sie, obschon die Traumbilder Traumantlitz trugen, den „realen Bildern“ visionäres Antlitz gaben und so die Grenzen zwischen Realität und Traum milderten. Sie haben, ich möchte es Ihnen eigens sagen, in meinem Sinn gehandelt. Diese „realen Bilder“ sind keine naturalistischen „Milieuszenen“, die Gestalten sind (bis auf die Gestalt Sonjas) nicht individualbetont. Was kann in einem Drama wie „Masse – Mensch“ real sein? Nur der seelische, der geistige Atem.

Als Politiker handle ich, als ob die Menschen als einzelne, als Gruppen, als Funktionsträger, als Machtexponenten, als Wirtschaftsexponenten, als ob irgend welche Sachverhältnisse reale Gegebenheiten wären. Als Künstler schaue ich diese „realen Gegebenheiten“ in ihrer großen Fragwürdigkeit. („Es ist noch eine Frage, ob wir persönlich existieren.“)

Ich sehe auf einem Gefängnishof Sträflinge in eintönigem Rhythmus Holz sägen. Menschen, denke ich bewegt. Der mag ein Arbeiter sein, der ein Bauer, der vielleicht ein Notariatsgehilfe …. Ich sehe die Stube, in der der Arbeiter lebte, sehe seine kleinen Eigentümlichkeiten, die besonderen Gesten, mit denen er ein Streichholz wegwerfen, eine Frau umarmen, das Fabriktor abends durchschreiten mag. Ich sehe ebenso deutlich den breitrückigen Bauern dort, den kleinen schmalbrüstigen Notariatsgehilfen. Dann … jäh … sind das gar keine Menschen X und Y und Z mehr, sondern schauerliche Marionetten, von ahnungsvoll erfühltem Zwang schicksalhaft getrieben.

Zwei Frauen gingen einmal vor meinem Zellenfenster, an dessen Eisenstäben ich hing, vorbei. Scheinbar zwei alte Jungfern. Beide trugen kurz geschnittene, weiße Haare, beide trugen Kleider von gleicher Form, gleicher Farbe und gleichem Schnitt, beide trugen einen grauen Regenschirm mit weißen Tupfen, beide wackelten mit dem Kopf.

Nicht eine Augenblicksspanne schaute ich „reale Menschen“, die im „realen Neuburg“, in der schmalen Gerichtsgasse spazieren gingen. Ein Totentanz zweier alter Jungfern, einer alten Jungfer und ihres Spiegeltodes, glotzte mich an.

–––––

Das Drama „Masse – Mensch“ ist eine visionäre Schau, die in zweieinhalb Tagen förmlich aus mir „brach“. Die beiden Nächte, die ich durch den Zwang der Haft in dunkler Zelle im „Bett“ verbringen mußte, waren Abgründe der Qual, ich war wie gepeitscht von Gesichten, von dämonischen Gesichten, von in grotesken Sprüngen sich überpurzelnden Gesichten. Morgens setzte ich mich, vor innerem Fieber frierend, an den Tisch und hörte nicht eher auf, bis meine Finger klamm, zitternd den Dienst versagten. Niemand durfte in meine Zelle, ich lehnte die Reinigung ab, ich wandte mich in hemmungslosem Zorn gegen Kameraden, die mich etwas fragen, die mir in irgend etwas helfen wollten.

Ein Jahr währte die müh- selige Arbeit des Neuformens und Feilens. Ich stehe dem Drama „Masse – Mensch“ heute kritisch gegenüber, ich habe die Bedingtheit der Form erkannt, die herrührt von einer trotz allem! inneren Gehemmtheit jener Tage, einer menschlichen Scham, die künstlerischer Formung persönlichen Erlebens, nackter Konfession, scheu auswich, und die doch nicht den Willen zu reiner künstlerischer Objektivation aufbringen konnte. Das Ungeheure der Revolutionstage war nicht seelisches Bild der Revolutionstage geworden, es war irgendwie noch schmerzendes, qualvolles „Seelen element “, Seelen-„ Chaos “.

Ich bin verwundert über die Verständnislosigkeit der Kritik. Die Ursache mag (und das ist am wahrscheinlichsten) ein Mangel der Gestaltung sein. Vielleicht ist aber auch Mitursache die Erscheinung, daß für den „bürgerlichen „ Kritiker „Zeitungswort“, „Leitartikelphrase“ usw. bedeutet, was für unsereinen, der dem proletarischen Volk nahe lebt, um seine geistige, seine seelische Welt weiß, der aus der seelischen und geistigen Welt des proletarischen Volks heraus schafft, Ausdruck erschütterndster, aufwühlendster, den ganzen Menschen erfassender ideelicher Kämpfe bedeutet. Es ist schon so: was in der sozialen Welt und deren künstlerischem Bild „dem Bürger“ Streit um dürre Worte scheint, ist dem Proletarier tragischer Zwiespalt, bedrängender Ansturm. Was dem „Bürger“ als Erkenntnis „tief“, „bedeutend“, als Ausdruck bewegtester geistiger Kämpfe erscheint, läßt den Proletarier gänzlich „unangerührt“. –

Daß auch proletarische Kunst im Menschlichen münden muß, daß sie im Tiefsten allumfassend sein muß – wie das Leben, wie der Tod, brauche ich nicht zu betonen. Es gibt eine proletarische Kunst nur insofern, als für den Gestaltenden die Mannigfaltigkeiten proletarischen Seelenlebens Wege zur Formung des Ewig-Menschlichen sind.

Festung Niederschönenfeld , Oktober 1921

Ernst Toller

D2:

An den Regisseur Jürgen Fehling.

Ich möchte Ihnen so gerne die Hand drücken. Da das nicht möglich ist, muß ich mich begnügen, Ihnen zu schreiben, wie tief ich Ihnen verbunden bin, wie voll Dankbarkeit ich an Sie denke. Sie haben durch Ihre wahrhaft mitschaffende Gestaltung meinem Drama „Masse Mensch“ erst jene lebendige Form gegeben, die die Zuhörer, die Zuschauer berührte und ergriff.

Wenn ich Ihnen all die Briefe zeigen dürfte, die von Ihrer Arbeit erzählen.

Es gibt Kritiker, die bemängeln, daß Sie auch den „realen“ Bildern visionäres Antlitz gaben. Sie haben, ich möchte es Ihnen eigens sagen, in meinem Sinne gehandelt. Diese „realen“ Bilder sind keine naturalistischen Milieuschilderungen, die Gestalten sind nicht individual betonte. Das Drama schrieb ich in zweieinhalb Tagen. (Wenn ich auch dann ein Jahr feilte.)

Die beiden Nächte, die ich durch den Zwang der Haft in dunkler Zelle im Bett verbringen mußte, waren Abgründe der Qual, ich war wie gepeitscht von Bildern. Morgens setzte ich mich an den Tisch und hörte nicht eher auf, bis meine Finger klamm, zitternd den Dienst versagten. Niemand durfte in meine Zelle, ich lehnte die Reinigung ab, ich wandte mich in hemmungsloser Wut gegen Kameraden, die mich freundlich etwas fragen oder mir in irgendetwas helfen wollten.

Nachher war ich wie ein ausgeschöpftes Gefäß, ich legte mich tagelang ins Bett und wußte kaum, was ich geschrieben hatte.

Ich stehe dem Stück „Masse Mensch“ heute kritischer gegenüber, ich habe die Bedingtheit der Form erkannt, die herrührt von einem inneren Gehemmtsein jener Tage, einer menschlichen Scham. Das Ungeheure der Revolutionstage war noch nicht Bild der Revolutionstage geworden, es war irgendwie noch schmerzende, qualvolle „Seelensubstanz“. –

Ich bin verwundert über die Verständnislosigkeit der Kritik. Ich habe von allen Kritiken, die ich bisher sah, nicht einen Kritiker gefunden, der das Wesen des Dramas in seinem Kern erfaßt hat. Das mag (und das ist am wahrscheinlichsten) an mir liegen. Vielleicht aber auch an der Tatsache, daß für den bürgerlichen Kritiker „Zeitungswort“, „Leitartikelphrase“ usw. ist, was für unsereinen, der dem proletarischen Volk nahelebt, um seine geistige, seine seelische Welt weiß, der das proletarische Volk aus seiner geistigen und seelischen Welt heraus schafft, Ausdruck aufwühlendster, den ganzen Menschen erfassender ideelicher Kämpfe ist.

Es ist schon so: was in der sozialen Welt etwa dem Bürger „Streit um Worte“ bedeutet, ist dem Proletarier tragischer Zwiespalt, bedrängender Ansturm. Was dem Bürger „tief“, „bedeutend“, Ausdruck bewegtester, geistiger Kämpfe ist, – daran geht der Proletarier völlig unangerührt vorüber.

Was kann in einem Drama wie „Masse Mensch“ real sein? Nur der seelische Atem.

Als Politiker handle ich, als ob die Menschen als Einzelne, als Gruppen, als Funktionsträger, als Wirtschaftsexponenten, als Machtexponenten, als ob irgendwelche Sachverhältnisse letzte reale Gegebenheiten wären. Als Künstler schaue ich diese letzten „realen“ Gegebenheiten insgesamt in ihrer großen Fragwürdigkeit. (Es ist noch eine Frage, ob wir persönlich existieren, sagt Hebbel einmal.) –

Ich sehe auf einem Gefängnishof Sträflinge in eintönigem Rhythmus Holz sägen. Menschen, denke ich, schmerzlich bewegt. Dann jäh … sind das gar keine Menschen mehr, sondern Marionetten.