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Gustav Landauer (geboren am 7. April 1870 in Karlsruhe; gestorben am 2. Mai 1919 in München-Stadelheim) war Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts einer der wichtigsten Theoretiker und Aktivisten des Anarchismus in Deutschland. Nach Niederschlagung der Münchner Räterepublik wurde er von antirepublikanischen Freikorps-Soldaten in der Haft ermordet.

Ernst Toller (*1. Dezember 1893 in Samotschin, Provinz Posen; gestorben am 22. Mai 1939 in New York City, New York) war ein deutscher Schriftsteller, Politiker und linkssozialistischer Revolutionär.

#159 Brief an Harry

Datierung 1921-10-18
Absendeort Niederschönenfeld, Deutschland
Verfasser Toller, Ernst
Beschreibung

Brief, 1 S., T, Fragment

Provenienz Fritz-Hüser-Institut für Literatur und Kultur der Arbeitswelt, Dortmund, NL Erich Grisar, Sign. Gri-1
Briefkopf -
Publikationsort D1: Ein Brief von Ernst Toller! In: Der Fackelreiter, 1928, Nr. 12, Dezember, S. 519f.
D2: Briefe aus dem Gefängnis (TW, Bd. 3, S. 333f.).

Als Druckvorlage wurde D1 herangezogen, da es sich bei T um eine fragmentarische Abschrift handelt, die, soweit erhalten, identisch mit D1, nicht aber mit D2 ist.
Personen ?, Harry
Landauer, Gustav
?, Harry
Toller, Ernst

Mein lieber Harry!

Eben verließ mich ein junger Kamerad, ein junger Arbeiter, der siebzehn Jahre alt, im Glauben an den Sozialismus, mit den Gesetzen des Staates in Konflikt kam und für seine Sache einundeinhalbes Jahr hier zubringen mußte. Was das bedeutet, wirst Du, wenn Du einmal älter bist, erfassen. Dieser junge Kamerad hat der Idee gelebt, die ihm lebenswert erschien. Und daß er ihr treu blieb, zeugt für seinen Charakter.

Du wirst morgen eingesegnet. Ich weiß nicht, ob Du gläubig der Religion das Bekenntnis des Jünglings entgegenbringst, oder ob Du tust, was Gewohnheit, Brauch, Gebot der Eltern Dich zu tun heißen. Sei es, wie es sei: Bleibe der Idee treu, die Dich wahr und heilig dünkt, tue nichts, weil es der überkommene Brauch heischt, tue alles aus dem reinen Trieb Deines Gefühls, dem Gebot Deines Gewissens, der Erkenntnis Deines Geistes. Scheue nicht das Unbequeme, das Opfer, wenn das Unbequeme, das Opfer auf dem Weg Deiner Wahrheit Dich erwartet. Du wächst in eine Zeit hinein, die auch vom jungen Menschen heroisches Leben fordert.

Sieh um Dich, betrachte die Jungen Deines Alters: nicht für alle wird gesorgt wie für Dich. Du wirst Jungen erblicken, deren Kleider ärmlich sind, deren Gesichter Hungerspuren tragen, die, während Du spielst, liest oder schläfst, arbeiten müssen, um ein paar Mark zur Unterstützung der Eltern zu verdienen. Frage Dich, warum die andern nicht teilnehmen dürfen an der reichen Vielfältigkeit jugendlichen Lebens. Vielleicht findest Du die Antwort. Und wenn Du die Antwort gefunden hast, wird Dich der Wunsch nicht mehr verlassen, ihnen die Hand zu geben. Ihr werdet in Gemeinschaft weitergehen, und Du wirst erkennen, daß das Leben reicher wird im gemeinsamen Kampf um ein hohes Ziel. –

Ich schenke Dir zwei Werke (die von den Verlagen an Deine Adresse gesandt werden): Das Buch „Der werdende Mensch“, die Bände „Shakespeare“. Beide Werke schrieb Gustav Landauer, ein großer Mensch, ein gütiger Geist, ein Märtyrer für die Sache der Menschheit. Er wurde im Mai 1919 von blinden Menschen erschlagen. –

Er glich nicht den großen Menschen, von denen Du in der Schule hörst, er war kein Prinz, kein General, kein Schlachtensieger, er trug keine Uniform, er besaß nicht einmal den winzigsten Orden. Wessen Wesens er war, das wirst Du erleben, wenn Du seine Schriften liest.

Ich glaube, ich habe Dir eine rechte Kapuzinerpredigt gehalten. Sie soll Dir Deine Fröhlichkeit nicht verderben, sie soll Dich nur für ein paar Minuten nachdenklich machen, heute, morgen, wann immer der Tag ernsten Begreifens kommt.

In Freundschaft

Dein

Ernst Toller

Festung Niederschönenfeld, 18. Oktober 1921.