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Nettie Sutro-Katzenstein (* 1. November 1889 in München; † 21. September 1967 in Zürich) war eine Schweizer Historikerin und Flüchtlingshelferin.

Alfred Kerr (* 25. Dezember 1867 in Breslau; † 12. Oktober 1948 in Hamburg) war ein deutscher Schriftsteller, Theaterkritiker und Journalist.

Ernst Toller (*1. Dezember 1893 in Samotschin, Provinz Posen; gestorben am 22. Mai 1939 in New York City, New York) war ein deutscher Schriftsteller, Politiker und linkssozialistischer Revolutionär.

Nettie Sutro-Katzenstein (* 1. November 1889 in München; † 21. September 1967 in Zürich) war eine Schweizer Historikerin und Flüchtlingshelferin.

#158 Brief an Nettie Katzenstein

Datierung 1921-10-04
Absendeort Niederschönenfeld, Deutschland
Verfasser Toller, Ernst
Beschreibung

Brief

Provenienz Original nicht ermittelt.
Briefkopf -
Publikationsort Briefe aus dem Gefängnis (TW, Bd. 3, S. 328f.).
Personen Katzenstein, Nettie
Kerr, Alfred
Toller, Ernst
Katzenstein, Nettie
Werke Masse Mensch
Die Maschinenstürmer

Dienstag, 4.10.21. In einer guten Stunde

An Tessa.

Wie die Aussicht, Dich zu sehen, Dich zu sprechen, meinem Kopf, der mir manchmal wie eine einzige Wunde vorkommt, wohltut. (Und nicht nur meinem Kopf …)

Dieses schmerzliche Geschenk der Haft stellt mich, neben Erkenntnissen, von denen zu sprechen nicht möglich ist, vor die Frage, ob es nicht notwendig sein wird, einst, nach meiner Entlassung, eine lange Zeit in Stille zu leben. Aber es ist solange bis dahin …

In Berlin scheint man eine größere Aktion zugunsten meiner Begnadigung zu planen. Man bat mich um die Abschrift meines Strafurteils. Ich habe noch einmal (und Du weißt vielleicht am ehesten, was das für mich bedeutet), betont, daß ich keine Einzelbegnadigung wünsche, solange die „Mitläufer“ in Haft bleiben.

(Was ich erstrebe, ist ein Urlaub von einigen Wochen, damit ich wieder haft- und arbeitsfähig werde. Hebbel sagt in seinen Tagebüchern: „Am Kopfschmerz ist mir weniger der Schmerz unerträglich, als die damit verbundene Verhinderung reiner und leichter Gedankenproduktion“.)

Als ich Dir von einem neuen Drama erzählte, warst Du ehrlich zornig und riefst: „Du sollst kein Vielschreiber werden, du darfst hier im Gefängnis nicht mehr schreiben!“ Ich mußte lächeln, wenn ich nicht mehr schreiben, schaffen, gestalten, schauen (eines ist nur eine Abwandlung vom andern) kann, bedeutet das inneres Versiegen, oder im besten Fall Verkrustung, Verharschung. Ich kann nur aus meiner seelischen Fülle schaffen.

Etwas Merkwürdiges noch: Das in Bayern wegen Aufreizung zum Klassenhaß verbotene Stück „Masse Mensch“ ist Alfred Kerr vom demokratischen Berliner Tageblatt zu friedlich, deutschnationale Blätter sehen darin eine freudig begrüßte Wandlung vom Massenkult hin zum Individualismus und … zum Völkischen. Das protestantische Pfarrblättchen „Der Reichsbote“ wittert Morgenluft, meint, jetzt beginne Tollers eigentliche Wandlung, lächelt dem werdenden „Renegaten“, aus dem immerhin Kapital zu schlagen wäre, verschämt holdselig zu …

Der Kritiker der Zentrums-„Germania“ spricht von einem „Ereignis in der Volksbühne“, von einem „seelischen Erlebnis“. Dagegen wollen einige Blätter im Stück eine „kommunistische Messe“ sehen, eine Feier für Bolschewisten, einseitige Verherrlichung der proletarischen Masse …

Wie wenig Kritiker haben das Werk erfaßt. Und gelegentlich eines solchen Falles merkt man, wer in unserer Zeitungskritik sudeln darf. Unwissende, Kunstfremde, Formfremde, Herzensfremde, Parteifanatiker, sektiererisch Verbohrte.