Weitere Briefe
1,665 Briefe gefunden

Nettie Sutro-Katzenstein (* 1. November 1889 in München; † 21. September 1967 in Zürich) war eine Schweizer Historikerin und Flüchtlingshelferin.

Karl Heinrich Franz Gareis (auch Carl Gareis, * 24. April 1844 in Bamberg, Bayern; † 15. Januar 1923 in München), später von Gareis, war ein deutscher Jurist und Fachautor.

Lew Nikolajewitsch Graf Tolstoi, deutsch häufig auch Leo Tolstoi; * 28. Augustjul./ 9. September 1828greg. in Jasnaja Poljana bei Tula; † 7. Novemberjul./ 20. November 1910greg. in Astapowo, heute Lew Tolstoi, in der Oblast Lipezk) war ein russischer Schriftsteller.

Kurt August Paul Wolff (* 3. März 1887 in Bonn; † 21. Oktober 1963 in Ludwigsburg) war ein deutscher Verleger; Gründer des auf expressionistische Literatur spezialisierten Kurt Wolff Verlags, der von 1913 bis 1940 existierte.

Romain Rolland (* 29. Januar 1866 in Clamecy, Département Nièvre; † 30. Dezember 1944 in Vézelay, Burgund) war ein französischer Schriftsteller, Musikkritiker und Pazifist.

Georges Duhamel (* 30. Juni 1884 in Paris; † 13. April 1966 in Valmondois nahe Paris) war ein französischer Schriftsteller.

Henri Barbusse (* 17. Mai 1873 in Asnières-sur-Seine bei Paris; † 30. August 1935 in Moskau) war ein französischer Politiker und Schriftsteller.

Stefan Zweig (* 28. November 1881 in Wien; † 23. Februar 1942 in Petrópolis, Bundesstaat Rio de Janeiro, Brasilien) war ein österreichischer Schriftsteller.

Hermann Karl Hesse (Pseudonym Emil Sinclair; * 2. Juli 1877 in Calw, Königreich Württemberg, Deutsches Reich; † 9. August 1962 in Montagnola, Kanton Tessin, Schweiz) war ein deutschsprachiger Schriftsteller, Dichter und Maler.

Carl Ferdinand Max Hauptmann, Pseudonym Ferdinand Klar, (* 11. Mai 1858 in Obersalzbrunn, Provinz Schlesien; † 4. Februar 1921 in Schreiberhau im Riesengebirge, Niederschlesien), Bruder von Gerhart Hauptmann, war ein deutscher Dramatiker und Schriftsteller.

André Suarès (* 12. Juni 1868 in Marseille; † 7. September 1948 in Val d'Oriol bei Marseille), eigentlich Isaac Félix Suarès, war ein französischer Dichter.

Gustav Klingelhöfer (* 16. Oktober 1888 in Metz; † 16. Januar 1961 in Berlin) war ein deutscher Politiker der SPD.

Katharina „Käthe“ Klingelhöfer, geborene Nissel (* 8. Februar 1889 in Kiel; † 8. Juni 1977 in Berlin), war eine deutsche Politikerin (SPD).

Maximilian I. Maria Michael Johann Baptist Franz de Paula Joseph Kaspar Ignatius Nepomuk (* 27. Mai 1756 in Schwetzingen bei Mannheim; † 13. Oktober 1825 in München) war bei Regierungsantritt im Jahre 1799 als Maximilian IV. zunächst Herzog von Bayern, Pfalzgraf bei Rhein, Herzog von Jülich und Berg sowie Kurfürst des Heiligen Römischen Reiches. Durch ein Bündnis mit dem napoleonischen Frankreich stieg er ab dem 1. Januar 1806 zum ersten König des Königreichs Bayern auf. Bei seinen Untertanen wurde er mit der populären Kurzform seines Namens „König Max“ genannt.

Friedrich Wilhelm von Thiersch (* 17. Juni 1784 in Kirchscheidungen bei Freyburg; † 25. Februar 1860 in München) war ein deutscher Philologe.

Friedrich Heinrich Jacobi, auch Fritz Jacobi, (* 25. Januar 1743 in Düsseldorf; † 10. März 1819 in München) war ein deutscher Philosoph, Jurist, Kaufmann und Schriftsteller.

Erich Friedrich Wilhelm Ludendorff (* 9. April 1865 in Kruszewnia bei Schwersenz, Provinz Posen; † 20. Dezember 1937 in München) war ein deutscher General und Politiker.

Ernst Toller (*1. Dezember 1893 in Samotschin, Provinz Posen; gestorben am 22. Mai 1939 in New York City, New York) war ein deutscher Schriftsteller, Politiker und linkssozialistischer Revolutionär.

Nettie Sutro-Katzenstein (* 1. November 1889 in München; † 21. September 1967 in Zürich) war eine Schweizer Historikerin und Flüchtlingshelferin.

#142 Brief an Nettie Katzenstein

Datierung 1921-06-24
Absendeort *Niederschönenfeld, Deutschland
Verfasser Toller, Ernst
Beschreibung

Brief, 14 S., M

auf nummerierten Doppelbögen, Bogen 3 fehlt

Provenienz StA M, Bestand Polizeidirektion München
Briefkopf -
Poststelle -
Personen Katzenstein, Nettie
Mitzky, Dora
Gareis, Karl
Tolstoi, Lew
Wolff, Kurt
Rolland, Romain
Duhamel, Georges
Barbusse, Henri
Zweig, Stefan
Hesse, Hermann
Hauptmann, Carl
Suarès, André
?, Maxim
?, Ussi
Klingelhöfer, Gustav
Klingelhöfer, Katharina
Maximilian I. Joseph von Bayern
Thiersch, Friedrich Wilhelm von
Jacobi, Friedrich Heinrich
Ludendorff, Erich
Toller, Ernst
Katzenstein, Nettie
Institutionen Verlag E. P. Tal
Kurt Wolff Verlag
Miesbacher Anzeiger
Völkischer Beobachter (München)
Vereinigte Kommunistische Partei Deutschlands (KPD)
Bayerische Volkspartei
Kommunistische Arbeiterpartei Deutschlands (KAPD)
Werke Gedichte der Gefangenen
Die Maschinenstürmer

12.6.21

Liebe, Dora gestürzt? Wie ich Dir die Qual nachfühle, über Büchern hockend Dich zum Examen vorbereiten, in Bern bleiben zu müssen, während Deine Freundin krank ist, allein und Schmerzen leidend.

Könntest Du mich nicht als Pfleger anfordern? Dora würde gewiß mit mir zufrieden sein. Wann werden wir drei einmal beisammen sitzen? – Schreib sofort, wie Doras Zustand ist!!! Noch drei Jahre … 1225 Tage …

Mir geht es gesundheitlich ein wenig besser. Das waren böse Wochen. Dein Fräulein sorgt in einer Fürsorge, deren Zartheit, Aufmerksamkeit, Stetigkeit wahrhaft rührend ist, für mich.

Und Dir muß ich auch für Dein Paket aus Bern danken! Du sollst doch keine Verschwendung treiben! Ich weiß ja, wie Du mit Deinen Geldmitteln knapsen mußt.

Du törichte, liebe Frau!

13.6.21

Liebe, liebe Nanette,

in dieser Stunde begräbt man Karl Gareis, der – wahrscheinlich von einem pol. Fanatiker – am Donnerstag Abend auf dem Heimweg ermordet wurde.

Vor mir liegt ein Brief, den er an den Herausgeber des Zielbuchs schrieb:

„… die Geistigen müssen bedingungslos unter das Volk gehen und sich von ihm, von der Masse dahin tragen lassen, wo sie hingehören …

Es gehört Stärke dazu, tagtäglich diesen Kontrast zwischen politischem und ästhetischem Leben am eignen Leib zu empfinden und nicht vor der einen Forderung zugunsten der andern zu kapitulieren. Aber ich glaube, nur wer schließlich diese Fähigkeit besitzt, sich der Forderung des Tages hinzugeben, ohne dabei sein Selbst zu verlieren, der zählt zu den Aktivisten. Es ist ja dieses ‚zum Volke gehen‘ nicht nur ein Hingeben, es ist auch ein Herausholen…

Wir Aktivisten müßten danach streben, den Bruch in der Einheit eines Gesellschaftskörpers, der durch die Zweiheit von Sprachen entstanden, wieder zu beseitigen, es wäre der geradeste Weg, um den Geist wieder in seine Rechte einzusetzen. Die Russen müßten uns hier, wie auch in dem ‚unter das Volk gehen‘ Vorbild sein: Tolstoi, der sein Hausgesinde zum Stilrichter über seine Werke macht, ohne dabei ein Haarbreit den Forderungen des Geistes zu entfliehen.

Wir müssen … eine unsichtbare Kirche bilden, daß der einzelne alle Gefahren der Vereinsamung und Befleckung überdauern kann …

… Immer untertönt in all diesem Außenlärm von der Sehnsucht nach reinlicher Einsamkeit und geistiger Sauberkeit …

Schon ist es fraglich, ob nicht kostbarste Zeit verloren, ob nicht schon wieder eine der Weltänderung unfähige Gesinnung der Seelen heraufzieht …“

– Liebe, so geht einer nach dem andern den dunklen Weg … Mich fröstelt.

Es muß wohl so sein. – Tötet das Werk seine eigenen Kämpfer, um in Formen von anderm Rhythmus sich entwickeln, sich entfalten zu können?

Was wissen wir? Mühsam das Chaos im eignen Innern bezwingend (denn was ist unser „geordnetes“ Vorstellungsleben anders als ein Bauen mit Elementen, die wir nach erlernten Regeln aus chaotischen „Schichten“ unsres Innen immer wieder mit brutalem Griff an die Oberfläche, die „Verstand“ heißt, zerren?) tasten wir nach „Gesetzen“ des „Draußen“, des „geschichtlichen Werdens“, geben „Sinnlosigkeiten“ „Sinn“.

Das Leben vollendet sich, schwingt nach Gesetzen (und auch Gesetz ist nur ein Wort), die jenseits unsrer armseligen

[Seite fehlt]

[„Wohin kämen wir, wenn Überfälle ... und Mord] an prominenten polit. Persönlichkeiten in Bayern zur polit. Gewohnheit werden würden? An den Pranger mit diesen polit. Mordbuben und auch an den Pranger ihren Hintermännern, die als Anstifter am gefährlichsten sind. Für sie darf es keine Gnade geben. Auch wer im polit. Leben eine Atmosphäre schafft („Miesbacher Anzeiger“, „deutschvölkischer Beobachter“ und ähnliche Erzeugnisse) in der solche Untaten gedeihen können, kann von der Mitschuld daran nicht freigesprochen werden.“

– Diese derbe Sprache spricht ein Organ der Bayrischen Volkspartei! –

In München für drei Tage der Generalstreik von Gewerkschaften und sozialistischen Parteien erklärt.

Kundgebungen des Landtags, der Regierung, die „aufrichtig bedauert, daß dieser durch hohe Geistesgaben ausgezeichnete Mann plötzlich aus dem Leben gerissen worden ist.“ (Eine Anstellung als „etatmäßiger“ Studienrat hat dieser, d. h. G. ausgezeichnete Mann nicht erhalten) –

Der Sinn der „Deutschen Revolution“? Beendigung der Revolution von 1848, die wegen der Schwäche, der Feigheit, des Knechtstums der bürgerlichen Klasse in den Anfängen stecken blieb und der absolutistischen Monarchie noch einige Jahrzehnte byzantinischen Atem ließ. Im November 1918 hat die Arbeiterschaft dem Bürgertum alle Hemmnisse aus dem Wege geräumt, die es an unbeschränkter Machtentfaltung hinderten. Das Bürgertum hat die zersplitterte, plan- und ziellos werkelnde Arbeiterschaft einige Zeit gewähren lassen müssen – heute fühlt es sich stark genug die nie aufgegebenen Positionen der Wirtschaft und der Staatsverwaltung zu behaupten. – Daß man der Arbeiterschaft gewisse Konzessionen (Betriebsrätegesetz, Achtstundentag) machte, versteht sich, ändert aber nichts am Charakter des bürgerlich-kapitalistischen Staats.

– Den Ideen der französischen Revolution hat Napoleon lebenskräftige Formen gegeben, nicht ein Revolutionär, sondern ein konservativer General.

Wer wird in Deutschland den sozialistischen Ideen zu gesellschaftlich „dauerhaftem“, wirksamem Leben verhelfen? Das Proletariat? Vielleicht. Die Geschichte lehrt, daß die Ideen der Revolutionäre erst dann soziale Formen von Dauer erhalten, wenn sie Gut nicht mehr der anfänglichen Minderheit, sondern lebendiger Besitz von Schichten wurden, die sie zuerst bekämpften, dann aber – denn jede Opposition ist ein Sich-zu-eigen machen dessen, dem man opponiert – handelnd bejahten.

Rußland spricht dagegen? Warten wir zwanzig Jahre!

Die „sozialistische Gesellschaft“ in Deutschland würde ihre deutschen Formen nicht verleugnen. (Die bürgerlichen Republiken im deutschen Reich tragen ausgesprochen deutsche Züge).

16. Ich bin Nachfolger von Gareis. Formell, denn der Landtag wird meine Freilassung nicht beschließen. Heute ist das Parlament souverän, braucht sich nicht mehr seine Macht durch Gesten zu beweisen, wie es das früher, als es sich der königlichen Gewalt gegenübergestellt sah, tun mußte. Welches Interesse kann eine reaktionäre Mehrheit an der Freilassung oppositioneller Abgeordneter haben? Liebe zu parlamentarischen Prinzipien wird ihren Entschluß diktieren? – Unpolitische Kinder können solche Illusionen hegen! –

17. Nationalistische Zeitungen tischen die Nachricht auf, Gareis sei „aus Eifersucht“ erschossen worden. Aus Eifersucht! – Es ist alles schon dagewesen. Um 1800 ließ der Kurfürst Maximilian, der, ein weißer Rabe, die Entwicklung der Wissenschaften begünstigte, norddeutsche Gelehrte nach Bayern kommen. (Feuerbach, Jacobi, Thiersch u. a.). Da riefen die guten Münchener: „Fort mit dem landfremden Gesindel! Es raubt uns unser Christentum!“ Die Gazetten hetzten, und eines Abends wurde Thiersch vor seinem Haus überfallen und durch einen Stich in den Nacken schwer verletzt. Ohne Zweifel ein polit. Attentat. Aber die Münchener Zeitungen berichteten: „Herr Thiersch wurde aus Eifersucht angegriffen. Der Liebhaber der Tochter seines Hauswirts (die H. Thiersch umschwänzelte) rächte sich an ihm.“ –

19. Das Reichsgericht in Leipzig hat die Breslauer Aulock-Verbrecher amnestiert. Die schweren Mißhandlungen an Gefangenen seien aus polit. Beweggründen verübt worden, „zur Vergeltung und zur Abschreckung.“ So weit sind wir also in der Deutschen Republik. Legitimierung gewisser „Gewohnheiten“ aus „großer Zeit.“ Welcher Abgrund!

20. Hölz-Prozeß. Eine Anerkennung dieses Mannes als Politiker bedeutete das Ende sozialistischer Politik. Wenn die K.A.P. und die V.K.P. Hölz als Politiker verherrlichen, so kann nichts deutlicher die krankhafte Verwirrung, die sektiererische Blindheit, das arbeiterschädliche Gebaren dieser Arbeiterparteien beweisen.

Ich versuche die „romantische Räuberfigur“ Max Hölzens sozialpsychologisch zu begreifen, und ich komme zu Resultaten, die für die im Stahlbad des Krieges moralisch gestärkten regierenden „Kulturschichten“ wie ein schauerlicher Weckruf sein müßten – wenn sie noch hören könnten.

Hölzens Haltung vor Gericht zeigt die Kühnheit des verwegnen (der Münchner sagt: des verw o gnen) Soldatentypus militaristischer Heroenzeiten. Immerhin ein Mann, wenn auch kein Besessener sozialistischer Idee und vor allem kein Vorbild ! Sich für barbarische Seelenzüge begeistern, nur weil sie in kühner Maske schaubar werden, zeugt von ungeklärtem, angekränkeltem Gefühl, oder – geheimer geistiger Sympathie, d. h. die wahre Gestalt des sich Begeisternden ist dem Hölzens irgendwie verwandt. (Die meisten Literaten, die sich begeistern, gehören zur ersten Gattung, lendenschwache, neurasthenische Existenzen, die immer zu auftretender Robustizität sich hingezogen fühlen. Die Liebe des physisch Impotenten zum physisch Potenten, gleichgiltig, welchen Inhalt diese Potenz hat. Wie viele geifernde Literaten „schwärmen“ im Innersten für Ludendorff!)

Ein jämmerliches Bild bieten in diesem Prozeß einzelne Arbeiter: „Wir sind gezwungen worden“, „Er hat uns hineingehetzt“, „Er hat uns den Revolver auf die Brust gesetzt“, „Freiwillig hätten wir niemals an seinen Zügen teilgenommen.“

Sie lügen oder sie belügen sich selbst – diese kleinen Knechtsnaturen. Ich mußte an einen Mann in München denken, der auch vor Gericht erklärte, er hätte unfreiwillig an der Nachtsitzung vom 6. zum 7. April in München teilgenommen, die Revolver seien auf ihn gezückt gewesen, jede Opposition hätte seinen Tod bedeutet. O dieser Held!

Wir Unabhängigen haben nicht einmal, sondern zu wiederholten Malen unsern Widerstand gegen die Ausrufung der Räterepublik zum Ausdruck gebracht. Wie warteten wir anfänglich auf die Unterstützung gerade jener Leute. Von gezückten Revolvern war keine Rede. (Und wie waren erst die Bauernbündler eifrige Anhänger der Ausrufung!!, die später ach so keusch taten!) –

Eine Episode, die im Hölz-Prozeß berichtet wurde, hat mir schmerzlich zu denken gegeben. Als Hölz merkte, daß in seiner Truppe große Disziplinlosigkeit herrschte, schoß er einfach auf einen seiner Leute, der ihm nicht gehorchte. Da ... wie auf ein „Zauberwort“ – traten seine Leute in Reih und Glied, „nahmen die Hacken zusammen“, standen stramm, „parierten widerstandslos.“

Beugen sich die Menschen immer noch dem „Herren“, wenn er sie nur brutal anzupacken versteht?

Dann hätte die Reaktion gute Aussichten auf den Endsieg –

(Eigentlich ist ja die Historie eine „Geschichte der Reaktion“, die für kurze Zeit, Monate, Jahre wurmstichig wird.)

21. Der Landtag lehnte die Freilassung ab.

Da ich die Nachricht erwartete, konnte sie meinen Gemütszustand nicht stören.

22. Ich werde bei Kurt Wolff ein kleines Bändchen Verse, Sonette aus der Haft, veröffentlichen.

Ihr werdet es, hoffe ich, ein „ganz klein bisschen“ lieb gewinnen, es ist mit Blut geschrieben.

Mein Drama, das ich jetzt „Die Maschine“, Ein Ludditendrama, nenne, erscheint bei E. P. Tal Wien. Die erste Auflage (1000 nummerierte Exemplare) in der Zwölf-Bücher-Druck-Reihe, in der bisher Arbeiten von Rolland, Duhamel, Barbusse, Zweig, Hesse, Carl Hauptmann, Suarès erschienen sind. Daneben eine ganz billige Ausgabe für organisierte Arbeiter.

23. Katja schrieb mir nach einer Periode langen Verschollenseins. Ihr Freund Maxim hat Magenkrebs, der Arzt gibt ihm noch einige Monate. Innerlich sei sie ihm entfremdet. Ein neuer Freund. Wochen der Hingabe. Ein langsames Voneinandergehen.

Die Frau ihres Münchner Freundes wurde erschossen. Du kennst wohl aus Zeitungsberichten die Geschichte der Tat. – Hilflos wie immer, zerrissen gutmütig bis zu haltloser Schwäche, geht sie – rettungslos – ihren Weg. Armes Mädchen. –

24. Wir verlangen vom Sozialisten nicht gewisse programmatische Bekenntnissätze, nicht ein Eingeschworensein auf Parteidogmen. Eine gewisse Art der Betrachtung sozialer Verhältnisse wird ihm und muß ihm stets eigen sein. Aber wegen einer bestimmten eigentümlichen Erkenntnisweise nennen wir einen Menschen noch nicht Sozialisten.

Wir verlangen vom Sozialisten mehr: eindeutige seelische Haltung, die sich zeigt in höherem Verantwortlichkeitsgefühl, in triebhaftem Drang dem andern zu helfen, in Hingabe an die Gemeinschaft, in Hingabe an das Werk, in schärferem Erfassen der sozialen Pflicht, kurz wir verlangen von ihm eine bestimmte Geistes- und Seelenhaltung.

Finden wir diese Haltung in der Wirklichkeit?

Ich lebe nun zwei Jahre in engstem Beieinander mit Proletariern, die Sozialisten sich nennen.

Freilich, ich trat an den Proletarier mit Illusionen heran, ich sah in ihm einen hohen Typus a priori. Diese Illusionen zerbrachen schnell, und sie mußten zerbrechen, weil sie im Acker ideologischer Engstirnigkeit wuchsen. Niemand ist deshalb „heilig“, weil er einer besonderen Klasse angehört.

Ich sehe nun nackt, und ich krampfe oft die Fäuste in beizendem Schmerz.

Ist es der Krieg, der diese die letzten Fasern durchdringende Korrumpierung verschuldet hat? Man ist gezwungen von einer Degradierung zu sprechen.

Außen ein paar Phrasen, die wie ein protziger, aber schlecht sitzender Mantel um den Leib schlottern, innen ein Mangel an Charakter, ein Mangel an Mut, eine Geldgier, eine hemmungslose Genußgier, die ernste gedankliche Durchdringung scheut, vor allem die Sucht, sich auf Kosten der andern Vorteile zu erschleichen, ein feiges Preisgeben des Kameraden – so grinst einen das verzerrte Antlitz der vielen an, gegen die die wenigen in entscheidenden Augenblicken meist unterliegen.

Grauenhaft der Knechtssinn, der immer wieder unter der Tünche des „stolzen S. Bewußtsein“ hervorbricht, das Residuum jahrhundertlanger Gedrücktheit.

Urteile ich grausam? Nein. Ich will wahr sehen und nicht illuminiert, gerade weil ich Sozialist bin, gerade weil die sozialistischen Wege mir aus Erkenntnis als die für die Gesellschaft notwendigen erscheinen.

Aber dieses Eindringen in proletarische Psychen (ich klammere mich quand même an die Hoffnung, daß ich sehr wenigen vollwertigen Proletariern begegnet bin, daß die Marter der Haft die schlechten Eigenschaften zur Betätigung geradezu drängen!) hat meine Anschauungen über die möglichen Formen gesellschaftlichen Lebens erschüttert, die Probleme der Notwendigkeit des Staats, der Notwendigkeit staatlicher Zwangsmaßnahmen, staatlicher straffer „zentralisierter“ „Ordnung“, die Probleme der verschieden Kratien, die ich für mich gelöst glaubte, bewegen mich lebhafter denn je.

– Ich grüße Dich und Dora aufs herzlichste, Ussi schrieb mir anmutige Briefe.

Euer

Ernst

Gustavs Frau ist an der Ostsee.

Er durfte einige Wochen nicht schreiben. Grüßt bestens. Arbeitet viel. Es fehlt die tiefere Bindung zwischen uns.