Nettie Sutro-Katzenstein (* 1. November 1889 in München; † 21. September 1967 in Zürich) war eine Schweizer Historikerin und Flüchtlingshelferin.
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Ernst Toller (*1. Dezember 1893 in Samotschin, Provinz Posen; gestorben am 22. Mai 1939 in New York City, New York) war ein deutscher Schriftsteller, Politiker und linkssozialistischer Revolutionär.
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#121 Brief an Nettie Katzenstein
Datierung | 1921-01-27 |
Absendeort | Niederschönenfeld, Deutschland |
Verfasser | Toller, Ernst |
Beschreibung | Brief |
Provenienz | Original nicht ermittelt. |
Briefkopf | - |
Publikationsort | Briefe aus dem Gefängnis (TW, Bd. 3, S. 313f.). |
Personen |
Katzenstein, Nettie
Toller, Ernst Katzenstein, Nettie |
Werke | Die Maschinenstürmer |
23.1.21
An Tessa.
Warum ich die langen Wochen nicht schrieb? Ich bitte Euch, nicht zu denken, daß eine Entfremdung schuld ist. Was ich Euch sagen wollte wuchs in einer Woche so hoch an … Am ersten Tag sagte ich mir: nein das kannst Du heute nicht bewältigen, Du bist heute ermüdet, Du mußt frischer sein. Am zweiten: Nun ist noch mehr dazu gekommen. Ich mag nichts fortlassen, ich will einen ganzen Tag nehmen für einen Brief an Euch. Und so ging es fort. Stunden und Stunden waren meine Gedanken bei Euch, meine Hände allein schliefen.
Dazu kam in den letzten Wochen (genauer Monaten) eine tiefe Bemühung um mein neues Drama „Die Ludditen“. Ich habe das Stück nun zweimal zerbrochen und neu aufgebaut. Als ich vorgestern den dritten Entwurf beendet hatte, glaubte ich vierundzwanzig Stunden lang: nun endlich ist es „fertig“… Heute bin ich daran gegangen, es umzuformen. Bilder neuer Szenen werden sichtbar. Gedanken verdichten sich, nehmen Gestalt an.
Wenn mich ein Stoff gepackt hat, hat er das im eigentlichen Sinn des Wortes getan. Er ergreift von meinem seelischen, von meinem geistigen, ja von meinem körperlichen Leben Besitz. (Es geschieht, daß ich mich unbewußt bewege, wie eine Gestalt meines Dramas.) Stundenpläne, die ich mir für Tagesarbeit anlegte, werfe ich über den Haufen, bei Gesprächen mit Kameraden werde ich plötzlich „zerstreut“ – das heißt hingelenkt zu meinem Thema, jedes äußere Ereignis wird Anlaß. Ich lebe kein eigenes Leben mehr, der nach Gestalt drängende Stoff lebt. Nach einiger Zeit empfinde ich diese Abhängigkeit, diese „Bedrückung“ als quälende Unfreiheit, ich suche mich von ihr zu befreien. Es gelingt mir erst dann, wenn der siebente Tag angebrochen ist, der Tag, der auf eine relative Vollkommenheit des Werks sieht. Dann bin ich frei. Frei ist man nur von dem, was man überlebt hat. (Wenn auch dann nicht Freude des Ruhens da ist, sondern Empfindung von Leere.)
Dilettanten haben die Fabel vom „genialischen“ Niederschreiben in einem Zug bei gleichzeitiger Vollkommenheit erfunden. Das mag im Leben einmal gelingen, sicherlich nicht immer. Dazu ist das Wort ein zu sprödes Material, das gehaßt und geliebt sein will.
27.1.
Ich habe mein Drama zum fünften Mal zerbrochen. Ich glaubte, was mich bewegte, in Worte geformt zu haben, las meine seelische Erregung in die Worte hinein, und blickte ich die Worte ein paar Tage später an, standen sie nackt da, nüchtern. Wie sehr kommt es in der Kunst auf die Gestaltung der Imponderabilien an. Sie sind die Seele des Werks.
Wie mein Stück wird, weiß ich noch nicht. Ich gehe (für mich) neue Wege. Stärker als je wird das Sinnliche Ausgang. Und doppelt schwer ist der Gestaltungskampf bei einem Leben, bei dem jede sinnliche Anregung fehlt.
Es muß in mir noch viel Spannkraft und rasender Lebenswille stecken, sonst begriffe ich nicht, wie trotz vieler Stunden, in denen mein Wille müde wird und nahe ist, zu verlöschen, ich eine stärkere Kraft spüre, zu schaffen.
Im „Lear“ fand ich die Worte: Dulden muß der Mensch seine Ankunft in der Welt. Reif sein ist alles.
(Doch auch: Was Fliegen sind den müßgen Knaben, das sind wir den Göttern. Sie töten uns zum Spaß.)