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Kurt August Paul Wolff (* 3. März 1887 in Bonn; † 21. Oktober 1963 in Ludwigsburg) war ein deutscher Verleger; Gründer des auf expressionistische Literatur spezialisierten Kurt Wolff Verlags, der von 1913 bis 1940 existierte.

Franz Viktor Werfel (* 10. September 1890 in Prag, Königreich Böhmen, Österreich-Ungarn; † 26. August 1945 in Beverly Hills, Kalifornien) war ein österreichischer Schriftsteller jüdischer Herkunft.

Ernst Toller (*1. Dezember 1893 in Samotschin, Provinz Posen; gestorben am 22. Mai 1939 in New York City, New York) war ein deutscher Schriftsteller, Politiker und linkssozialistischer Revolutionär.

Kurt August Paul Wolff (* 3. März 1887 in Bonn; † 21. Oktober 1963 in Ludwigsburg) war ein deutscher Verleger; Gründer des auf expressionistische Literatur spezialisierten Kurt Wolff Verlags, der von 1913 bis 1940 existierte.

#120 Brief an Kurt Wolff

Datierung 1921-01-19
Absendeort Niederschönenfeld, Deutschland
Verfasser Toller, Ernst
Beschreibung

Brief, 5 S., M

Provenienz YUL, Beinecke Rare Book and Manuscript Library, Yale Collection of German Literature, Kurt Wolff Archive (YCGL MSS 3), Box 7, Folder 293
Briefkopf -
Publikationsort D1: Kurt Wolff. Briefwechsel eines Verlegers. 1911–1963. Hrsg. v. Bernhard Zeller und Ellen Otten. Frankfurt/Main: Verlag Heinrich Scheffler 1966, S. 325f.
D2: „Ich glaube nicht mehr an Wandlung“. Aus dem Briefwechsel zwischen Kurt Wolff und Ernst Toller. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung (1968), Nr. 202, S. 16.
Personen Wolff, Kurt
Werfel, Franz
Toller, Ernst
Wolff, Kurt
Werke Masse Mensch
Die Maschinenstürmer

Sehr verehrter Herr Kurt Wolff,

müssen Sie mir nicht zürnen? Sie überhäufen mich mit Aufmerksamkeiten … und ich danke kaum.

Das Weihnachtspaket war mir ein kostbares Geschenk, und ich gebe Ihnen in großer Dankbarkeit die Hand.

Am tiefsten gepackt hat mich Werfels „Spiegelmensch“. Hier gestaltet ein großer Dichter der – es sei trotz „ Wir sind“ gestattet zu sagen – individualistischen Kultur (Lyriker mehr, denn Dramatiker), einer der Tiefes, Menschliches zu sagen hat und es zu formen weiß in grandioser Architektonik.

Ich las das Werk mitten in einer neuen Arbeit (ich versuche den Kampf der englischen Maschinenzerstörer zu gestalten) – und ich war tagelang unfähig weiterzuschaffen.

Meine Arbeit liegt freilich in anderem Bezirk. Inneres Gesetz treibt mich zur „proletarischen“ Kunst. (Ich verstehe – in groben Umrissen – unter „proletarischer Kunst“: die Gestaltung der ewig menschlichen und menschheitlichen Probleme, die in der Seele des erwachten Proletariers neu erlebt werden. Lebensform, Charakter, dumpfer Trieb, bewußte Sehnsucht des proletarischen Menschen und der proletarischen Massen geben dem Erlebnis, also auch dem Kunstwerk eigne Züge und Form.) Indessen – ich sehe meine Grenzen und weiß, daß ich nur Primitives schaffen kann, einer der unzählichen Vorläufer bin, die alle zusammen Land sind, wenn auch nur Brachland. Wirkliche proletarische Kunst kann nur wachsen, wenn proletarische Kultur da ist . Reife Epochen einer Kultur zeugen klassische Werke. (Ich glaube Ihren Einwand zu hören. Natürlich ist Kunst im Letzten klassenlos und deshalb der Begriff „proletarische Kunst“ unscharf, streng genommen sogar eine Antinomie) –

Heute haben wir (außer vielleicht in Rußland, und auch da mache ich ein Fragezeichen, weil ich dort eher bäurische Frühkultur erwarte als proletarische) kaum mehr als armselge Ansätze.

Was sich so proletarische Dichtung nennt, ist meist „romantisch-abstraktes“ Gestammel ohne Blut. Masse wird götzenhaft angebetet, jeder Proleter als Inbegriff „ des “ Guten, „ der “ Liebe, „ der “ Gerechtigkeit angehimmelt, jede tragische, nur sozialpsychologisch erklärliche Erscheinung als „absolutes Wunder“ behymnet.

Nur der wird proletarische Werke schaffen, der eindringt in die Seele des Proletariats, sie nackt sieht in ihrer elenden Verkümmerung, verseucht von Gewöhnlichkeit und Brutalität – und in ihrer strahlenden Kraft, ihrer kindlichen schuldlosen Reinheit.

Nicht das Abstrakte, das Programm, sondern das Sinnliche wird wieder Ausgang und Tor werden.

Das enge jahrewährende Zusammengepferchtsein von 40 Gefangenen auf einem Zellengang (wie oft wünsche ich Zellen einsamkeit! ) verhilft zu mancher reichen Schau. Heilt etwa vorhanden gewesenen Romantizismus. Ich war, wozu es leugnen, in qualvollen Wochen erfüllt von tiefstem Skeptizismus. Wo früher Glaube war, wuchs höhnischer selbstzerfasernder Zweifel. – Ich glaube auch diese Periode heute überwunden zu haben.

Freudige Bejahung des Schicksalsnotwendigen – und der Sozialismus ist für mich eine soziale Schicksalsnotwendigkeit. Was kommt es darauf an, ob er Paradies bedeutet oder nicht! Nur Schwächliche brauchen Glauben an ein Paradies auf Erden.

Ich grüße Sie sehr herzlich.

Ihr

Ernst Toller.

Haben Sie „Masse Mensch“ erhalten? Ich bat den Verlag, Ihnen das Buch zu schicken.

Fest. Niederschönenfeld

19.1.21.