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Nettie Sutro-Katzenstein (* 1. November 1889 in München; † 21. September 1967 in Zürich) war eine Schweizer Historikerin und Flüchtlingshelferin.

Ernst Toller (*1. Dezember 1893 in Samotschin, Provinz Posen; gestorben am 22. Mai 1939 in New York City, New York) war ein deutscher Schriftsteller, Politiker und linkssozialistischer Revolutionär.

Nettie Sutro-Katzenstein (* 1. November 1889 in München; † 21. September 1967 in Zürich) war eine Schweizer Historikerin und Flüchtlingshelferin.

#80 Brief an Nettie Katzenstein

Datierung 1920-07-09
Absendeort Neuburg an der Donau, Deutschland
Verfasser Toller, Ernst
Beschreibung

Brief

Provenienz Original nicht ermittelt.
Briefkopf -
Publikationsort Briefe aus dem Gefängnis (TW, Bd. 3, S. 290f.).
Personen Katzenstein, Nettie
Toller, Ernst
Katzenstein, Nettie

Neuburg, 9.7.1920

An Tessa.

Ich bin seit Montag zu zahnärztlicher Behandlung im Landgerichtsgefängnis Neuburg. Trotzdem ich mein Wort gegeben hatte, keinen Fluchtversuch zu unternehmen, traf man „Vorsichtsmaßregeln“, die einen wie Ohrfeigen treffen – könnten, wenn nicht eine gewisse Zuschauerüberlegenheit da wäre.

Vom Zellenfenster aus sehe ich – nach langer Zeit wieder – die Bilder einer kleinen Stadt. Kinder spielen und balgen sich auf der Straße, alte Frauen mit Kapuzen und Regenschirmen gehen wie zeitlose Gespenster, eigne Traumphantome, mürrisch vorüber, junge Mädchen, die selbst vor Zellenfenstern kokett sich in den Hüften wiegen – all die Bilder eng begrenzten Lebens werden lebendig und verblassen.

Ich kann mich niemals eines Gefühls erwehren, als ob die Menschen da unten Marionetten wären, bereit, im nächsten Augenblick zu einem grotesken Tanz die Füße zu heben. Wenn so eine alte Frau zufällig hinaufschaut, eine Sekunde verweilt, spüre ich Lust, ihr zuzurufen: „Nun, Madame, tanzen Sie, man erwartet es und wird im Takte nicken.“ Selbst im Wirklichen spüre ich das Unwirkliche des Lebens, ob mir nun ein Wärter gegenübersteht, der die Zelle aufschließt, oder ein Staatsanwalt, der mich verhört, eine junge Frau, die mir auf der Straße zulächelt, ein unbewohntes Haus, dessen Fenster mich anstarren, Not und Qual und Kampf und Blut, alles löst sich auf, ist nur flüchtige Erscheinung.