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Ernst Toller (*1. Dezember 1893 in Samotschin, Provinz Posen; gestorben am 22. Mai 1939 in New York City, New York) war ein deutscher Schriftsteller, Politiker und linkssozialistischer Revolutionär.

#71 Brief an Hans Vollmann

Datierung 1920-04-26
Absendeort Niederschönenfeld, Deutschland
Verfasser Toller, Ernst
Beschreibung

Brief

Provenienz Original nicht ermittelt.
Briefkopf -
Publikationsort Briefe aus dem Gefängnis (TW, Bd. 3, S. 287f.).
Personen Vollmann, Hans
Vollmann, Hans
Toller, Ernst
Werke Exekution

Niederschönenfeld, 23.4.20

An die Festungsverwaltung.

Herr Oberstaatsanwalt!

Wie ich höre, haben Sie meine Skizze „Exekution“ wegen „agitatorischen Inhalts“ beschlagnahmt.

„Exekution“ ist ein kleines Bild aus der Revolution. Ist es etwa wegen seines Schauplatzes agitatorisch? Dann müßten alle Revolutionsgeschichten der Weltliteratur (und es sind eine ansehnliche Anzahl von Bänden geschrieben worden) beschlagnahmt werden.

Was behandelt denn meine kleine Skizze? Eine Frau hat in ihrem Zimmer einem „Rebellen“ Unterschlupf gegeben und, um ihn zu retten, die in seinem Besitz befindlichen Handgranaten auf der Brust verborgen. In die Stube dringen Soldaten, und einer entdeckt bei der Frau die Handgranaten.

Jeder, der Waffen trägt, wird erschossen, und so trifft auch die Frau das Urteil des Standgerichts.

Es liegt in der Natur des Standgerichts, ohne eingehende Untersuchung rasch abzuurteilen, es ist bekannt, daß oft Unschuldige verurteilt werden, es ist ebenso bekannt, daß oft junge, unerfahrene Offiziere Richter sind.

Als die Frau auf den Platz der Exekution tritt, empfangen sie rohe Zurufe der Soldaten. Der Krieg hat sie verroht.

Ich erinnere Sie an die Kriegsgedichte, die von Blut und Haß erfüllt waren, an die Eisenbahnzüge mit den unsagbar rohen Aufschriften, an das Tor von Stadelheim schließlich, auf dem in den ersten Maitagen 1919 zu lesen war: „Hier werden Spartakisten kurz und schmerzlos zu Tode befördert“. „Hier wird Blut- und Leberwurst aus Spartakistenblut gemacht …“ Liegt darin etwas „Verhetzendes“, wenn ich die Soldaten sprechen lasse, wie eben Soldaten in solchen Momenten sprechen? (Und wem erzähle ich damit Neues?) –

Gerade jener Soldat, der am brutalsten die Frau behandelt hat, erlebt eine seelische Wandlung. Da er der Frau, die nach der Salve noch zu leben scheint, den Gnadenschuß gibt, blickt er in Augen, die voll grenzenloser Güte ihn ansehen, die von Wut und Haß nicht wissen, die eher von Mitleid mit dem Mörder sprechen.

Der Soldat, betroffen, im Innersten aufgewühlt, springt auf, zerbricht, ein Rasender, an der Mauer das Gewehr, schreit wild auf … Wohin er blickt, sieht er die Augen der Frau. Er stürzt sich endlich auf die Tote, küßt die Lippen, das Gesicht, die Augen … und irrsinnig wimmert er ein Liebeslied vor sich hin.

Worin liegt das Agitatorische?

Daß der Soldat in jenen Sekunden erkannte, eine Frau voll so gütiger, seelischer Hoheit ist nicht des Todes schuldig, daß in jäher Erkenntnis ihm das Wissen wächst: niemand hat das Recht, einen Menschen zum Tod zu verurteilen? Daß er, überwältigt von der Zeit, die in diesem kleinen Geschehnis ihr Gleichnis findet, sich aufbäumt und, den großen Schmerz nicht zu ertragen fähig, in Wahnsinn stürzt?

Der Dichter ist kein Zweckmäßigkeitsschreiber. Der Dichter muß schreiben – oder er schreibt garnicht.

Und jedes von einem Dichter geschriebene Werk wirkt „agitatorisch“, sofern man unter agitatorischer Wirkung menschliche Aufrüttelung versteht.