Weitere Briefe
1,665 Briefe gefunden

Nettie Sutro-Katzenstein (* 1. November 1889 in München; † 21. September 1967 in Zürich) war eine Schweizer Historikerin und Flüchtlingshelferin.

Ernst Toller (*1. Dezember 1893 in Samotschin, Provinz Posen; gestorben am 22. Mai 1939 in New York City, New York) war ein deutscher Schriftsteller, Politiker und linkssozialistischer Revolutionär.

Nettie Sutro-Katzenstein (* 1. November 1889 in München; † 21. September 1967 in Zürich) war eine Schweizer Historikerin und Flüchtlingshelferin.

#69 Brief an Nettie Katzenstein

Datierung *1920-03-??
Absendeort Niederschönenfeld, Deutschland
Verfasser Toller, Ernst
Beschreibung

Brief

Provenienz Original nicht ermittelt.
Briefkopf -
Publikationsort D1: Frühling. In: Die Weltbühne, 17 (1921), Bd. I, Nr. 14 vom 7.4., S. 391f.
D2: Briefe aus dem Gefängnis (TW, Bd. 3, S. 286f.).

Als Druckvorlage wurde D2 herangezogen, da nur diese Veröffentlichung in Briefform geschah.
Poststelle -
Personen Katzenstein, Nettie
Toller, Ernst
Katzenstein, Nettie

Niederschönenfeld 1920.

An Tessa.

Da ich an einem blassen Februarabend den Feldweg zum Gefängnis ging, weite Landschaft in den von so vielen Monaten quälender Zellenwände erlösten Augen, da ich den Geruch der mütterlichen Scholle spürte, ward ich verängstigt zuerst, blickte mich um in tiefer Scheu, daß meine drei Wächter mich schärfer umstellten. Dann aber atmete ich auf in beglückter Stille.

Da war eine einsame Birke in der Ferne dieser Felder, mit zarten gebrechlichen Ästen.

Erinnern rührte mich. Die Landschaft war mir vertraut: so empfinde ich die Landschaft meiner Heimat. Was wissen sie um Deine Schönheiten, die Dich verhöhnen, weil Du im Osten schwingst, weil Dein Name ihren Ohren, die verkrüppelt sind von spitzem Haßschrei, nicht wohllautend klingt.

Wenn wir auf dem Hof im Quadrat gehen, klettern unsere Blicke am fünf Meter hohen Bretterzaun empor, klettern hinauf bis zu den feinen Eisenspitzen, die der Zaun als Diadem trägt, klettern und fallen in jähem Schwindel in die Abgründe unserer dunklen Sehnsucht. Aber wenn wir durch die Ritzen des Bretterzaunes schauen, das Drahtverhau draußen erblicken und die Beobachtungsstände für die Posten, die durch kleine Löcher uns belauern, dann lachen wir verächtlich und singen ein trotziges Freiheitslied.

Das kümmerliche Gras auf dem Hof sproßt. Es wird Frühling. Hörst Du: Frühling. Man schreit das Wort hinaus, singt es vor sich hin, streichelt es wie ein kostbares Gefäß. Wie viele Jahre habe ich den Frühling nicht mehr erlebt. Im vorigen Jahr vor entfesselter Soldateska in den Wohnungen opferbereiter Freunde verborgen, vor zwei Jahren im Militärgefängnis, vorher der Krieg, der hundert Jahre dauerte oder mehr – man weiß es nicht.

Ich habe im Gras die ersten Gänseblümchen entdeckt, weiße Gänseblümchen mit einem rosigen Hauch.

Und eine goldgelbe Butterblume blinzelt am Zaun. Die Bäume tragen winzige Knospen. Ich beobachte jeden Tag, wie sie größer werden.

Und gestern, da ich durchs vergitterte Fensterloch blickte, sah ich die Birke, die einen grünen Schleier trug.

Auch die Weidenbäume am Teich draußen schimmern in einem samtenen Grün.

O Grün der Wiesen und Felder. Farbentanz grüner Sonnen. O sanftes Wunder dieser Tage.

Seit heute früh darf ich nicht mehr hinaussehen. Für zwei Wochen wurde einigen Gefangenen „der Hofgang entzogen“, (und für sechs Wochen das Recht, Briefe fortzusenden) weil sie nicht schweigen konnten, weil sie das Antlitz dieser Festungshaft brandmarkten.

Denn die Regierung des Freistaates Bayern hat die Festungshaft des Charakters beraubt, den sie besaß, als sie noch für Offiziere und -Studenten bestimmt war, denen Ehrenhändel eine nicht unrühmliche Ehrenhaft eintrug. Revolutionäre Sozialisten sind zu Festungshaft verurteilt. Die sperrt man in frühere Gefängnisse und verschärft die Haft durch Quälereien und mannigfache Martern, daß die Seelen der Gefangenen mürbe werden. Denn wir leben in einem Freistaat.

Glaubt Ihr, durch Strafen unsere Nacken zu beugen, unsern harten Willen zu lähmen?

Die einen wurden um der „Ruhe und Ordnung“ willen auf der Flucht erschossen, die andern genießen die Wohltaten der deutschen schwarzrotgoldenen Republik. Doch unsere Lieder könnt Ihr nicht verbieten. Hört Ihr, wovon sie singen?