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Maximilian Harden (* 20. Oktober 1861 in Berlin; † 30. Oktober 1927 in Montana, Schweiz; ursprünglich Felix Ernst Witkowski) war ein deutscher Publizist, Kritiker, Schauspieler und Journalist.

Rosa Luxemburg (* 5. März 1871 als Rozalia Luksenburg in Zamość, Königreich Polen; † 15. Januar 1919 in Berlin) war eine marxistische Politikerin; 1919 Mitbegründerin der Kommunistische Partei Deutschlands.

Karl Paul August Friedrich Liebknecht (* 13. August 1871 in Leipzig; † 15. Januar 1919 in Berlin) 1918/19 Mitbegründer der Kommunistischen Partei Deutschlands. Während der Novemberrevolution rief Liebknecht am 9. November 1918 vor dem Berliner Schloss eine „freie sozialistische Republik“ aus. Kurz nach der Niederschlagung des Berliner Januaraufstands wurden er und Rosa Luxemburg von Freikorps-Offizieren ermordet.

Gustav Landauer (geboren am 7. April 1870 in Karlsruhe; gestorben am 2. Mai 1919 in München-Stadelheim) war Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts einer der wichtigsten Theoretiker und Aktivisten des Anarchismus in Deutschland. Nach Niederschlagung der Münchner Räterepublik wurde er von antirepublikanischen Freikorps-Soldaten in der Haft ermordet.

Leo Jogiches, auch Tyszka, (* 17. Juli 1867 in Wilna, Russisches Kaiserreich, heute Litauen; † 10. März 1919 in Berlin) war ein sozialistischer Politiker und Mitbegründer der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD).

Gustav Noske (* 9. Juli 1868 in Brandenburg an der Havel; † 30. November 1946 in Hannover) war ein SPD-Politiker, bekannt auch durch seine zentrale Rolle in der Novemberrevolution und den nachfolgenden sozialen und politischen Auseinandersetzungen der Jahre 1918 bis 1920.

Johannes Hoffmann (* 3. Juli 1867 in Ilbesheim bei Landau in der Pfalz; † 15. Dezember 1930 in Berlin) war ein Politiker der DVP und SPD und 1919/20 Bayerischer Ministerpräsident.

Ernst Müller-Meiningen (* 11. August 1866 in Mühlhof bei Schwabach; † 1. Juni 1944 in München) war bayerischer Justizminister, Senatspräsident am Bayerischen Obersten Landesgericht und Reichstagsabgeordneter.

Ernst Toller (*1. Dezember 1893 in Samotschin, Provinz Posen; gestorben am 22. Mai 1939 in New York City, New York) war ein deutscher Schriftsteller, Politiker und linkssozialistischer Revolutionär.

Maximilian Harden (* 20. Oktober 1861 in Berlin; † 30. Oktober 1927 in Montana, Schweiz; ursprünglich Felix Ernst Witkowski) war ein deutscher Publizist, Kritiker, Schauspieler und Journalist.

#68 Brief an Maximilian Harden

Datierung 1920-03-11
Absendeort Niederschönenfeld, Deutschland
Verfasser Toller, Ernst
Beschreibung

Brief

Provenienz BArch, Koblenz, NL Maximilian Harden, Sign. N1062/107
Briefkopf -
Publikationsort D1: Briefe aus dem Gefängnis (TW, Bd. 3, S. 279f.).
D2: Hans W. Panthel: Im Umfeld einer Zwangssituation. Ein Kassiber Ernst Tollers an Maximilian Harden. In: [Ders.]: Symbiosen. Politisch-literarische Aufsätze. St. Ingbert: Röhring 1996 (Mannheimer Studien zur Literatur- und Kulturwissenschaft, 8), S. 145–150.
Poststelle -
Personen Harden, Maximilian
Luxemburg, Rosa
Liebknecht, Karl
Landauer, Gustav
Jogiches, Leo
Noske, Gustav
Müller, ?
Keßler, Carl
Kaufmann, Adolf
Hoffmann, Johannes
Müller-Meiningen, Ernst
Lieberich, Heinrich
Toller, Ernst
Harden, Maximilian
Institutionen Die Zukunft (Berlin)

Sehr verehrter Herr Harden,

ohne zu wissen, ob dieser Brief je in Ihre Hände gelangt, vertraue ich ihn in guter Hoffnung „illegaler“ Beförderung an.

Noch immer wagt es die Regierung, in offiziösen Berichten mit pathetischem Aufwand zu verkünden, daß „verhaftete Spartakisten auf der Flucht erschossen seien.“ Wagt es trotz Liebknecht, Luxemburg, Landauer, Jogiches und all den Namenlosen. –

Auch ich sollte einmal „auf der Flucht erschossen“ werden. Die Umstände hierbei sind, glaube ich, von allgemeiner Bedeutung, da sie zeigen, wie Fluchtversuche in der Republik des Herrn Noske „gemacht“ werden. –

Alle Vorgänge, die ich jetzt beschreibe, sind durch Aussagen zweier Wärter protokollarisch bestätigt. Ein Wärter hieß Müller. Das Protokoll nahm der Vorstand des Gefängnisses Oberlandesgerichtsrat Keßler auf. – Ein Aufseher verriet mir, was sich vor dem Verhörzimmer zutrug. Bei meinen Aussagen gab ich darauf an, beim Verlassen des Zimmers hätte ich die entscheidenden Sätze selbst gehört.

Ende Juni 1919. Der Tag ist durch meinen Verteidiger Ra. Kaufmann, Kaufinger Str. 31 München zu erfahren). Gefängnis Stadelheim.

Ich werde durch Wärter aus meiner Zelle, die im ersten Stockwerk liegt, ins Verhörzimmer geführt, das sich im Parterre befindet.

Während ich mich im Zimmer aufhalte, sammeln sich etwa 5–6 Reichswehrsoldaten, dem Aussehen nach Studenten und Offiziere in Mannschaftsuniform vor der Tür. Die Soldaten beraten, was mit mir zu tun sei. Einer schlägt vor: „ Man tritt ihm beim Spaziergang im Hof auf den Fuß, daß er aufspringt. Das wäre dann ein Fluchtversuch.

Die andern stimmen bei.

Da ich das Zimmer verlasse und in meine Zelle geführt werde, folgen mir die Soldaten unter wüsten Schmährufen ins erste Stockwerk.

„Du roter Schuft!“, „Du roter Lump!“, „Die Kugel ist schon für Dich gerichtet.“

Nur der Umsicht des Aufsehers Müller ist es zu danken, daß die Soldaten nicht durch das Eisengitter, das den Zellengang abschließt, eindringen.

Nach zehn Minuten werde ich auf den Spazierhof geführt.

Beim Verlassen des Zellengangs bemerke ich die Soldaten, die, vom bevorstehenden Spaziergang unterrichtet, auf mein Kommen gewartet hatten.

Die Soldaten folgen unter Drohungen bis an das Gitter des Ganges, der zum Hof führt.

(Absichtlich vermeide ich es, durch irgend eine Bewegung mich mit den Helden einzulassen.)

Am Gitter unten versuchen die Soldaten, den Eintritt zu erzwingen.

Wieder ist es nur dem energischen Eingreifen der Wärter zu verdanken, daß der Versuch der Schützer von Ruhe und Ordnung mißlingt. –

Zufällig besuchte mich eine Viertelstunde nach diesem Vorkommnis mein Rechtsanwalt. Er fordert vom Ministerpräsidenten Hoffmann telegraphisch Sicherheitsmaßregeln. Eine Schutzwache wird gestellt. –

Das Nachspiel.

Vom Oberlandesgerichtsrat Keßler fordere ich protokollarisch Aufnahme der Vorgänge. Es geschieht. Zwei Aufseher bezeugen und ergänzen meine Darlegungen.

Herr Keßler macht zuerst Ausflüchte. Die Soldaten würden sich schwerlich feststellen lassen. (Einen Tag nach dem Vorfall fand die Protokollaufnahme statt!) Schließlich erklärt er, daß er keine Befehlsgewalt über die Soldaten besitze. Ob ich denn auf einer Bestrafung bestehe?

Ich bin verblüfft. Ein offenkundiger Mordversuch, und ich werde gefragt, ob ich eine Bestrafung wünsche. Um Feststellung der Namen ersuche ich. –

Auch das geschah nicht. „Die Namen konnten nicht mehr festgestellt werden.“

Natürlich fand sich kein Staatsanwalt, der eine Untersuchung eingeleitet hätte. Das war nicht weiter verwunderlich in München. Erklärte mir doch der I. Staatsanwalt Lieberich bei meiner Vernehmung auf meinen Hinweis, daß Landauer brutal ermordet sei: „ Das ist nicht wahr. Landauer war Rebell. Darum ist er nach gutem Kriegsrecht erschossen worden. “ –

Ich sende Ihnen, sehr verehrter Herr Harden, diese ausführliche sachliche Darstellung, weil ich annehme, daß sie Ihnen vielleicht als Material wertvoll ist.

Zu meiner großen Freude hörte ich vor einigen Tagen, daß Sie sich der politischen Gefangenen in Bayern annehmen wollen. Mit Material kann ich dienen. Dieser ehrenwerte Herr Demokrat Müller-Meiningen läßt uns sozialistische Gefangene unter Bedingungen die Haft verbüßen, die den Begriff „Festung“ zu einer traurigen Farce wandelten.

Wie sehr meine Kameraden Ihr Vorhaben ehren und Ihnen dankbar sind, brauche ich nicht zu versichern.

Ich grüße Sie in steter hoher Schätzung,

Ihnen sehr ergeben

Ernst Toller.

Niederschönenfeld b/ Donauwörth 11.3.20.

P.S. Darf ich Sie bitten, mir zum Zeichen, daß Sie diesen Brief erhalten haben, ein Exemplar der Zukunft zusenden zu lassen?