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Nettie Sutro-Katzenstein (* 1. November 1889 in München; † 21. September 1967 in Zürich) war eine Schweizer Historikerin und Flüchtlingshelferin.

Christiane Lili Grautoff (* 5. April 1917 in Berlin; † 27. August 1974 in Mexiko-Stadt) war eine deutsche Schauspielerin und die Ehefrau des expressionistischen Schriftstellers Ernst Toller.

Leopold Jessner (* 3. März 1878 in Königsberg; † 13. Dezember 1945 in Hollywood) war ein deutscher Theater- und Filmregisseur. 

Ernst Toller (*1. Dezember 1893 in Samotschin, Provinz Posen; gestorben am 22. Mai 1939 in New York City, New York) war ein deutscher Schriftsteller, Politiker und linkssozialistischer Revolutionär.

#1662 Brief an Betty Frankenstein

Datierung 1939-05-01
Absendeort New York City, New York, USA
Verfasser Toller, Ernst
Beschreibung

Brief, 4 S., T/M + Kuvert

 

Provenienz DLA Marbach, Bestand A:Toller, Zugangsnr. 62.280/5
Briefkopf Hotel The Mayflower, New York City
Poststelle 1939-05-18
Personen Frankenstein, Betty
Cohn, Erich
Cohn, Hertha
Schönblum, Anne
Toller, Heinrich
Israel, Lotte
Katzenstein, Nettie
Katzenstein, Erich
Grautoff, Christiane
Jessner, Leopold
Toller, Ernst
Frankenstein, Betty
Institutionen Habima Theater
Ohel Theater
Werke Nie wieder Friede!
Pastor Hall

 

 

Liebe Betty,

 

 

Diesmal müssen Sie mir verzeihen, dass ich den Brief mit der Schreibmaschine schreibe.

 

 

Trotz der Jahre (Himmel, sind es wirklich mehr als sechs Jahre), die wir uns nicht gesehen haben, ist mir Ihr Bild und Ihre Freundschaft lebendig wie je.

 

 

Es wäre schön, wenn wir uns wiedersehen könnten, und ich wage es kaum zu hoffen. Ja, wenn die HABIMA oder OHEL Theater mein letztes Stück aufführten und mich einlüden, das wäre wohl ein Weg.

 

 

Bis dahin sollen Sie wissen, dass ich mit meinen Gedanken und guten Wünschen bei Ihnen bin.

 

 

Ich warte sehnlich darauf zu hören, dass für Hertha und Erich die Einreise nach Palästina bewilligt wurde. Wenn Erich sich vor Jahren entschlossen hätte, Deutschland zu verlassen, dann wäre es ein Leichtes gewesen, die beiden nach England oder nach Amerika zu bringen. Heute müssten sie, trotz der Affidavits und trotz des Immigration-Visums zwei bis drei Jahre warten, so überfüllt ist die Quota. Ihr Schicksal ist ein Nachtmahr für mich. Die Nazis wissen recht gut, was ich draussen getan habe, ich glaube nicht, dass sie heute noch irgendwelche Rücksicht auf das Urteil der Welt nehmen.

 

 

Vielleicht lasen sie in der Weltbühne die Rede, die ich Anfang Oktober in London hielt; damals wurde von vertrauenswürdiger Seite berichtet, dass die Nazis für den Fall des Krieges ein Judenpogrom vorbereitet hatten. Es ist ein Wunder, und ich bin dem Schicksal dankbar, dass die beiden im November mit heiler Haut davongekommen sind. Aber Wunder geschehen nur einmal, darum bitte ich Sie wieder, herzlich und dringend, Anne zu helfen, die Übersiedlung zu ermöglichen.

 

 

Wenn auch meine finanzielle Lage seit zwei Jahren miserabel ist, sie kann sich doch einmal wieder ändern, und ich werde alles tun, um Hertha und Erich zu helfen.

 

 

Ohne diese Monate währenden Einbrüche wäre alles anders. Wenn es nur eine Frage des Willens wäre! Aber das ist es leider nicht. Doch darüber möchte ich lieber nicht schreiben.

 

 

Ich teilte Annchen mit, von welcher Sorge ich um Heinrich bin. Ein Brief, den ich absandte, bevor die Nazis Prag besetzten, kam zurück als unbestellbar. Wäre es Heinrich gelungen, ins Ausland zu fliehen, hätte ich bestimmt von ihm telegraphisch gehört, und die Hoffnung, dass er sich verborgen hält, ist gering. Ich muss mit dem Schlimmsten rechnen. Es ist furchtbar. Ich habe in den ersten Jahren seines Exils ihn angefleht, er möge nach Samotschin fahren; seine Antwort war stets, er wolle sich nicht geistig begraben. Ich fass es nicht, dass er, Hertha und Erich nicht die Zeichen dieser barbarischen Zeit sahen.

 

 

Aber es hat keinen Sinn, jetzt darüber zu lamentieren.

 

 

Mir waren Einzelheiten über Ihr Schicksal unbekannt. Ich hörte zum ersten Mal von Ihnen, dass man Sie an der Grenze zurückgeschickt hat. Es ist ein Trost, dass Sie draussen sind. Sie haben Ihr Leben lang für Palästina schwer gearbeitet, und ich hoffe, dass Sie es jetzt leichter haben.

 

 

Was Sie mir über Anne schreiben, ist traurig. Ich hatte gehofft, dass sie wenigstens drüben in diesen Jahren einen Platz gefunden hat und imstande ist, ihr Leben aufzubauen.

 

 

Bitte, liebe Betty, haben Sie Geduld und stehen Sie ihr bei.

 

 

Von Lotte I. hatte ich fast sechs Jahre nicht gehört. Vor ein paar Wochen kam unerwartet ein Brief, sie möchte mit ihrem Kind nach Amerika einwandern. Sie bittet mich um ein Affidavit. Sie hat sich (sie legte auf das Vertrauliche dieser Mitteilung wert) mit einem viel jüngeren Mann wiederverheiratet. Ihr Brief hat mir nicht gefallen. Der Ton war nicht echt.

 

 

Von Netty höre ich nie. Erich hat mit mir gebrochen, weil ich seinerzeit die Beziehung zu Rechtsanwalt R., von der er sich gelöst hatte, nicht aufgeben wollte. Ich habe es nie verstanden.

 

 

Sie scheinen nicht zu wissen, dass Christiane und ich seit letztem Juli getrennt sind. Die Scheidung war bisher aus finanziellen Gründen nicht möglich. Auch ihr geht es nicht gut. Sie ist, wie Sie wissen, Schauspielerin, und sie spricht fliessend englisch. In London trat sie einmal auf in meiner Komödie „Nie wieder Friede“. Hier fand sie keine Arbeit. Im Moment ist sie in Hollywood, wo Jessner mit deutschen Schauspielern eine Wilhelm Tell Aufführung in englischer Sprache bereitet. Was ich darüber höre, lässt mich an keinen Erfolg glauben. – Ich weiss nicht, was mit ihr werden soll. Sie ist heute erst 21 Jahre alt, und vielleicht gerade weil sie ein „Wunderkind“ und allzufrüh „berühmt“ war, ist sie dem Leben nicht gewachsen.

Suchen Sie nach keiner Schuld, weder bei Christiane noch bei mir. So einfach ist es nicht. Sie war sehr jung und wollte ihr eigenes Leben leben.

 

 

Grüssen Sie Frau L., sie ist eine wirkliche Freundin. Ich hätte gern gewusst, wann sie nach London zurückkehrt.

 

 

Ich weiss im Moment nicht, was in den nächsten Monaten werden soll. Vielleicht fahre ich nach England zurück.

 

 

Liebste Betty, wochenlang blieb der Brief liegen – es waren grausame Wochen – Eine gute Nachricht. Heinrich ist in Prag unbehelligt – Ich habe ihm hier ein Affidavit besorgt, das bereits in seinem Besitz ist. Wie ihn in ein anderes Land bekommen? Ich versuche für ihn die Erlaubnis zu erwirken, sich in England aufzuhalten. Seine Adresse ist: Tunich bei Panonskvoa Prag II/III

Ich darf ihm nicht schreiben. Liebe gute Betty, ich umarme Sie. Grüssen Sie Annchen und alle Freunde, besonders Frau [unleserlich] Landsberg [unleserlich].

Ernst.